30 Jahre Existenz Tres Soles

  14.06.2019 Leserbeitrag

Wenn man ein Kind retten kann, dann muss man es retten. Das ist eine einfache Entscheidung. Darüber muss man nicht nachdenken, dafür braucht es keine Theorien.

BEAT RICHNER, «BEATOCELLO», SCHWEIZER KINDERARZT UND MUSIKER

Nachdem ich in der letzten Ausgabe (siehe AvS vom 10. Mai) auf unser 20-jähriges Bestehen im Jahr 2009 dankbar zurückgeschaut habe, wende ich mich nun unserem aktuellen Jubiläum zu:

30 Jahre Existenz Tres Soles – dass wir so lange würden durchhalten können, hätte sich in den Anfängen niemand vorstellen können, am allerwenigsten ich. Wie oft schon schien das Projekt vor dem Aus zu stehen? Wenn man an die Anfänge zurückdenkt, ist es wahrhaft ein Wunder. Dass wir das geschafft haben, haben wir vielen Menschen zu verdanken. Unzählige Freunde und Unterstützer zeichnen dafür verantwortlich, die uns immer wieder, sei es mit Taten, moralisch oder mit Geldspenden unterstützt haben. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle meine Frau Guisela, die neben der alltäglichen Bürokratie und der Arbeit in der Näh- und Kartenwerkstatt, wenn es um Probleme mit den Behörden geht, unermüdlich für uns die Kohlen aus dem Feuer holt. Nicht zuletzt hat auch der Durchhaltewillen der Kinder, sich auf unsere Strukturen einzulassen, dazu beigetragen.

Anlässlich dieser Tatsache möchte ich eine kleine Anekdote über Kevin Carter, einen südafrikanischen Fotografen erzählen, die mich in den ersten Jahren von Tres Soles tief berührt hat und mitverantwortlich war, dass ich in Bolivien geblieben bin. Man muss wissen, dass es nicht meine Absicht war, in Bolivien zu bleiben und den Kindern zu helfen. Vielmehr wollte ich für ein Buch recherchieren, das ich zu schreiben geplant hatte.

Kevin Carter, der südafrikanische Fotograf, im gleichen Alter wie ich, hatte sich Ende der Achtzigerjahre mit seinen dramatischen Bildern über den Kampf gegen das Apartheid-Regime in seinem Land einen Namen gemacht. Anfang der Neunzigerjahre begleitete er einen UN-Hilfskonvoi im Sudan. Am Rande eines Dorfes traf er auf ein halb verhungertes Kind, neben dem ein Geier lauerte. Er schlich sich rund zwanzig Minuten an, sehr vorsichtig, um einerseits den Geier nicht zu stören und gleichzeitig die bestmögliche Perspektive für eine optimale Aufnahme zu finden. Nachdem er das Foto geschossen hatte, verscheuchte er den Geier und entfernte sich Richtung Flugpiste, wo ein Flugzeug auf ihn wartete.

Im März 1993 wurde dieses Foto in der «New York Times» veröffentlicht und gewann ein Jahr später den renommierten Pulitzerpreis. Bei der Preisübergabe musste Carter sich allerdings von den anwesenden Journalisten unbequeme Fragen stellen lassen. «Was ist später mit dem Kind passiert?», wurde er gefragt. «Ich weiss es nicht.» – «Haben Sie denn den Geier nicht verscheucht?» – «Den Geier … ja doch, nachdem ich das Foto geschossen hatte.» – «Aber Sie haben dem Kind doch geholfen?» – «Dem Kind?» – «Ja.» – «Physisch nicht.»
Die Fragen wurden von Zwischenrufen, die Carter unterstützten, unterbrochen: «Das ist doch nicht die Arbeit eines Reporters!» und «Seit wann ist ein Reporter zu Hilfeleistungen verpflichtet?» – «Ich behaupte nicht, dass wir von der Pflicht ausgeschlossen sind, aber ich glaube, mit dem Foto habe ich mehr als das getan», versuchte Carter sich zu verteidigen.

Die kritischen Fragen brachen nicht ab: «Warum haben Sie das Kind nicht in Sicherheit gebracht? Haben Sie das Kind in der Wüste zurückgelassen, damit es verhungert? Haben Sie kein Problem mit der Entscheidung, die Sie getroffen haben?» – «Ich habe kein Problem mit der Entscheidung», antwortete Carter genervt, aber scheinbar selbstsicher. «Ich bin als Fotograf dorthin gegangen und habe ein grossartiges Foto geschossen!»

Kevin Carter war «weggegangen» und konnte sich nicht rechtfertigen – ich konnte nicht weggehen, auch wenn die Lage der Kinder in Bolivien nicht so dramatisch war wie die Lage des erwähnten afrikanischen Kindes. Ich hatte die erste Fassung meines Buches «Krumme Pfote» bereits geschrieben und das Material für einen geplanten historischen Roman gesammelt. Es ist jedoch überflüssig zu spekulieren, was ich gemacht hätte und was aus meinem Leben geworden wäre, wenn ich wie Carter gegangen wäre.

Unumstössliche Tatsache ist, dass sich Carter einige Monate nach der Preisverleihung das Leben nahm, indem er sich Abgase ins Auto leitete. In seinem Abschiedsbrief stand unter anderem: «Der Schmerz des Lebens übersteigt die Freude bis zu dem Punkt, ab dem keine Freude mehr existiert. Die bedrückenden Bilder von Mord, Leichen, Wut, Schmerz, verhungernden und verwundeten Kindern verfolgen mich immerzu.»

Es liegt mir fern, Carter zu richten. Wahrscheinlich wäre es für ihn, eingebunden in seine Arbeitsverträge, sehr schwierig gewesen, dem Kind wirklich zu helfen. Ebenso wenig will ich behaupten, dass es mir hundertprozentig gelungen ist, Kunst mit Sozialarbeit und Erziehung zu verbinden, aber ich habe es versucht. Wenn ich es nicht versucht hätte, wäre ich in meinem Leben wahrscheinlich nie wieder glücklich geworden.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Spendern bedanken, die unseren «Versuch», immer, ohne jede Bedingung, unterstützt haben. Die Spender sind so zahlreich, dass ich davon absehe, sie namentlich zu nennen. Da es sich hier jedoch um eine Lokalzeitung handelt, möchte ich mich ganz besonders bei den Lesern und Spendern, bei meinen Freunden und meiner Familie im Saanenland, meiner Heimat, bedanken. In der nächsten Ausgabe wird es wie gewohnt mit Berichten aus Tres Soles weitergehen.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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