Europa – das spannende Politlabor

  28.06.2019 Leserbeitrag

Die Wahlen ins Europaparlament vor Monatsfrist haben es gezeigt, Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern bestätigen es: Wohl kaum je seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird die Parteienlandschaft so rasch und so fundamental umgepflügt wie jetzt. Gesamteuropäisch hat der Durchmarsch der EU-skeptischen Kräfte zwar nicht stattgefunden. Aber das Bild ist nicht einheitlich. In Frankreich und Italien liegen die Rechtspopulisten vorne, in anderen Ländern dagegen waren ihre Erfolge bescheiden oder gar unterdurchschnittlich. In Frankreich und vor allem in Deutschland implodiert die Sozialdemokratie förmlich; nicht so aber in den südlichen und nördlichen EU-Staaten.

Das Spektakuläre ist allerdings nicht so sehr die Veränderung der Mehrheitsverhältnisse zwischen den Parteien. Viel dramatischere Folgen hat der tiefgreifende Wandel innerhalb einzelner Parteien, vor allem innerhalb der klassischen Konservativen. Die Schutzwälle gegenüber Rechtspopulismus und Rechtsextremismus sind schwach. Die Politik der Rechtsparteien wäre ohne gütige Mithilfe der Konservativen in den meisten Fällen nicht sehr erfolgreich. Beispiele gibt es genug: Bereits spielen ganz vereinzelt CDU-Politiker in Deutschland mit dem Gedanken, auf Kommunal- oder Länderebene Koalitionen mit der erstarkenden AfD zu bilden, die ihrerseits einen hartnäckig rechtsradikalen Kern hat. Den Brexit-Entscheid von 2016 hätte die radikale Anti-EU-Partei Ukip von Nigel Farage kaum durchboxen können, hätte sich die Führung der britischen Konservativen nicht vor sich hertreiben lassen und hätten nicht prominente Tories das Anliegen unterstützt. Donald Trump wäre nie US-Präsident geworden, wäre er nicht der offizielle Kandidat der Republikaner gewesen. Heute ist die einst stolze «Grand Old Party» bloss noch ein Trump-Anhängsel.

Ganz ähnlich lief es in Österreich. Der Polit-Jungstar Sebastian Kurz kaperte die konservative ÖVP und zog mit dem vielsagenden Listennamen «Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei (ÖVP)» in den Wahlkampf. Kurz ging siegreich aus den Wahlen vom Oktober 2017 hervor, wurde Bundeskanzler und bildete mit der rechtsextremen FPÖ die Regierung. Nach der Ibiza-Affäre um FPÖ-Parteichef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache und dem Zusammenbruch der Regierung Ende Mai wird es noch offensichtlicher: Kurz plant für die Wahlen im September 2019 den Durchmarsch und will seiner Partei wohl noch deutlicher einen rechtspopulistischen Anstrich verpassen. Thematisch hatte der Kanzler mit der FPÖ schon während der unrühmlich zu Ende gegangenen gemeinsamen Regierungszeit kaum Differenzen. Er betrieb nicht nur eine Migrationspolitik ganz nach dem Geschmack der extremen Rechten, sondern duldete auch die diversen nazistischen Affären des Koalitionspartners.

Man kann sich aber auch als linke Partei den rechten Mainstream erfolgreich einverleiben, wie die dänischen Sozialdemokraten vordemonstrierten. Sie sind siegreich aus der Parlamentswahl von Anfang Juni hervorgegangen, indem sie eine prononciert linke Sozial- und Wirtschaftspolitik mit einer ebenso prononciert rechten Ausländerund Flüchtlingspolitik kombinierten. Mit diesem Rezept ist es ihnen gelungen, die zu den Rechtspopulisten abgewanderten Wählerinnen und Wähler wieder zurückzuholen. Die Frage ist bloss, ob sich mit der Preisgabe der bisherigen Identität eine Linkspartei langfristig über Wasser halten kann.

Keine Frage ist, dass das gesamte politische Spektrum tendenziell nach rechts driftet. Gleichzeitig spült die Klimakrise jedoch auch grüne Kräfte unterschiedlicher Einfärbung nach oben, was nochmals zu anderen Konstellationen führen kann. Mit anderen Worten: Europa wird zum spannenden Politlabor.

JÜRG MÜLLER
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