«Sind Sie bequem?»

  11.10.2019 Leserbeitrag

ANITA MOSER
Ich sitze respektive liege mit geschlossenen Augen praktisch kopfüber auf dem Behandlungsstuhl, den Absaugschlauch im Mund und antworte «Ähä!». Meine Hände liegen auf meinem Schoss, mal zur Faust geballt, mal ineinandergekrallt bis die Chnödli weiss werden. Schmerzen verspüre ich keine, die Anästhesiespritze wirkt. Es müssen die Kindheitserinnerungen sein, die mich fast in Schockstarre verfallen lassen beim Zahnarzt.

Einmal im Jahr stand die fahrbare Schulzahnklinik für mehrere Tage auf dem Schulhausplatz. Der Fahrersitz wurde zum Behandlungsstuhl. Ein Kind nach dem anderen musste dort Platz nehmen. Wir waren jeweils froh, wenn wir während des Unterrichts drankamen. Ja nicht während der Pause! Denn dann kletterten die Klassenkamarädli auf die Böschung und hatten einen wunderbaren Blick in die Fahrerkabine … War das peinlich, wenn die Schulkameraden sahen, dass einem Tränen über die Backen kullern. Einem der Schulzahnärzte verpassten wir den Namen «Rossmetzger». An ihn habe ich eine bleibende Erinnerung und er vielleicht auch an mich … Ich war noch in der Unterstufe, musste ein kleines Loch flicken lassen. «Es wird nicht weh tun», tröstete mich meine Mutter und gab mir die Erlaubnis für eine Anästhesiespritze. Eine Spritze kostete damals zehn Franken und musste von den Eltern bezahlt werden. Vor dem «Pick» der Spritze hatte ich keine Angst. Als ich mit Scharlach während mehreren Wochen das Bett hatte hüten müssen, bekam ich eine Zeitlang täglich eine Penicillinspritze.

Der «Rossmetzger» bestand jedoch darauf, mich ohne Betäubung zu behandeln. «Tue nid so blöd», meinte er und hiess mich, den Mund aufmachen. Er setzte den Bohrer an und ich biss zu! Erst schrie er, dann schimpfte er und schickte mich nach Hause. «Ich hab ja gesagt, dass ich eine Spritze haben darf …», schluchzte ich unter Tränen und zottelte nach Hause. Das Löchli wurde dann später geflickt – unter Betäubung. Aber die Angst ist geblieben und verfolgt mich bis heute.

«Sind Sie bequem?», fragt der Zahnarzt und holt mich ins Jahr 2019 zurück. Ich öffne die Augen. «Ähä», antworte ich und lockere etwas meine verkrampften Finger. [email protected]


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