An eine bessere Welt glauben

  03.12.2019 Leserbeitrag

Die letzte Ausgabe der Bolivienspalte (siehe AvS vom 22. November) befasste sich ausserplanmässig mit den Wahlen in Bolivien. Bevor ich meinen Bericht über die Arbeit in unserem Projekt jedoch fortsetze, möchte ich den Lesern und Leserinnen nicht das Interview der spanischen Zeitung «Introversion» mit meiner Frau vorenthalten.

«Heldinnen» von Anna T. Farran
Seit mehr als 29 Jahren existiert Tres Soles, ein Projekt, das Strassenkinder, seien sie Waisen oder nicht, aufnimmt, um ihnen Erziehung und ein Dach über dem Kopf zu geben. Mit der Zeit ist es gewachsen und hat sich gefestigt, indem es stetig sein Konzept und seine Arbeitsformen perfektioniert hat. Guisela, die Co-Leiterin, ist die Alma Mater dieser Nichtregierungsorganisation, sowohl im wörtlichen als auch metaphorischen Sinn, die zusammen mit einem Psychologen im wahrsten Sinn Körper und Seele der Projektbewohner nährt. Und diese Organisation ist bis zu diesem Zeitpunkt in Spanien weitgehend unbekannt, trotz der enormen und wertvollen menschlichen Arbeit, die dort geleistet wird.

Ich habe nicht das Glück gehabt, sie persönlich kennenzulernen, aber ich glaube, dass Guisela, neben einem grossen Herzen, kraftvoll und warmherzig ist, beharrlich bis zum Erreichen ihrer Ziele, klein von Statur, aber stark und zäh. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass sie das fünfte Kind ihrer Mutter und das achzehnten ihres Vaters war. Schon als kleines Kind lernte sie von ihrer Mutter, was Teilen und Glauben an eine bessere Welt bedeutet. «Aber du musst es auch wirklich wollen», sagte ihre Mutter immer zu ihr. Und Guisela will es wirklich und arbeitet hart, um es zu erreichen.

Wie kam es zu dem Namen Tres Soles?
Guisela Fernández:
Den Namen haben die Kinder gewählt. Für mich ist das ein perfekter Name. Ich denke auch, dass es mit allem Dagewesenen bricht, sich drei Sonnen vorzustellen.

Haben Sie dieses Projekt gegründet? Seit wann und warum machen Sie mit?
Eines Tages traf ich einen Verrückten, der an eine bessere Welt glaubte und der wusste, dass die Träume wahr werden, wenn man sich daran macht, diese Welt aufzubauen, von der man träumt. Es war ein Typ, in den man sich auf den ersten Blick unsterblich verliebt. Er hatte schon begonnen, die Arbeit mit den Strassenkindern zu strukturieren. Als ich sah, wie er sich voller Zuneigung, auf Kosten der eigenen Bequemlichkeit, um sie kümmerte, beschloss ich, ihm dabei zu helfen. Stefan ist heute mein Mann. Er ist einer derjenigen Menschen, die fähig sind, Träume Realität werden zu lassen.

Woher kommen diese Kinder? Sind es Waisenkinder oder wurden sie einfach verlassen? Wie kommen sie zu Ihnen?
Unsere Jungen und Mädchen sind das Resultat einer gleichgültigen und grausamen Gesellschaft. Fast 80 Prozent von ihnen haben Mutter oder Vater, aber sie kümmern sich nicht um sie. Der Rest sind Waisen. Sie kommen zu uns über das bolivianische «Servicio Departamental de Gestión Social», was dem Jugendamt entspricht. Das Mindestaufnahmealter liegt bei fünf Jahren. Wir versuchen Geschwistern den Vorzug zu geben, damit die Familien nicht noch mehr auseinander gerissen werden.

Ich stelle mir vor, dass diese Kinder schwierig sind. Wie schaffen Sie es, dass sich die Kinder an die Wohngemeinschaft gewöhnen?
Es handelt sich um misshandelte, von ihren Familien ausgeschlossene Kinder. Wenn sie zu uns kommen, können sie oft nicht glauben, dass wir sie mit offenen Armen empfangen und ihnen die Chance geben wollen, die ihnen ihre Eltern verweigert haben. Der Fokus unserer Arbeit liegt auf der persönlichen Betreuung, die sie bei uns erhalten. Da die Gruppen nicht zu gross sind, funktionieren wir wie eine grosse Familie. Wir geben ihnen ihre Rechte zurück und kümmern uns zuerst um ihre geistige Gesundheit. Wir verwöhnen sie, indem wir immer ein Lächeln für sie haben. Im Grunde geben wir ihnen praktisch alles, was ihnen ihre Herkunftsfamilien nicht geben konnten. Wir behandeln sie mit Respekt, das macht den Unterschied zu anderen Einrichtungen aus. Für uns sind es erwünschte Kinder.

Sie fühlen sich sozusagen als «Mutter» von allen…
Wenn Sie mich fragen, ob ich sie liebe, ist die Antwort ein klares Ja. Ich liebe sie von ganzem Herzen. Vielleicht ist es schwierig, meine Position zu verstehen, aber manchmal glaube ich, dass ich mehr erhalten habe als das, was ich menschlich geben konnte.

Wie viele Kinder betreuen Sie im Moment?
In der Kinder- und Jugendwohngemeinschaft Tres Soles sind es 21 Jungen und Mädchen und im Studentenund Lehrlingsheim 22 junge Erwachsene.

Wie ist die aktuelle Lage von Tres Soles?
Persönlich bin ich etwas traurig über die aktuelle Lage, da der Staat Bolivien eigentlich verantwortlich für diese Jungen und Mädchen ist, aber wir von ihm nicht einmal einen Lebensmittelzuschuss bekommen. Die vorherigen Regierungen liessen uns wenigstens in Ruhe arbeiten, aber jetzt nicht einmal das. Wir haben nicht die mindeste Garantie, weiterarbeiten und auf bessere Tage für unsere Solesianerkinder hoffen zu können. Arbeitsplätze gibt es praktisch nicht und die wirtschaftliche Lage ist sehr unstabil. Der Gipfel ist, dass man verneint, dass es überhaupt noch Armut in Bolivien gibt. Das Schlimmste ist, dass wir eine vom Staat unerwünschte Nichtregierungsorganisation sind, obwohl wir die gesamte Verantwortung für etwas übernehmen, das der Staat übernehmen müsste. Nicht nur, dass uns diese Regierung nicht hilft, sondern sie setzt auch alles daran, um uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. (Fortsetzung folgt)

PD/STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: [email protected] erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4.

www.tres-soles.de


ZUR PERSON

Guisela Fernández (52) ist Co-Leiterin des bolivianischen Projekts Tres Soles. Ihr Ziel dabei ist, «dass meine ‹solesianos› heranwachsen und ordentliche, selbstständige und glückliche Menschen werden.» Fernández ist mit Stefan Gurtner verheiratet und Mutter von zwei Töchtern (21 und 25). Ihr persönliches Motto: «Mit einem Sandkörnchen zu einer besseren Welt beitragen.»


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