Von «leeren Blättern in der Weltgeschichte»

  20.12.2019 Leserbeitrag

«Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr», schrieb der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Das heisst so viel wie: Historisch ruhige Zeiten ohne Kriege, Krisen und Konflikte und ohne dramatische Umwälzungen sind bessere Voraussetzungen für ein bisschen Glück als «interessante» Zeiten, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Aber irgendwo ist ja bekanntlich immer irgendetwas los, die «leeren Blätter» in der Weltgeschichte, die glücklichen Zeiten also, sind dünn gesät. Und doch gibt es immer wieder Perioden, in denen eine grosse Mehrheit der Menschen mit Zuversicht in die Zukunft blickt, in denen Aufbruchstimmung herrscht – und trotzdem ein grosses Kapitel Weltgeschichte geschrieben wird. Kürzlich haben wir ein solches Ereignis gefeiert, am 9. November, als vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel, der Kalte Krieg zu Ende ging und Frieden und globale Kooperation vor uns zu liegen schienen.

Doch im Nachhinein wissen wir, das Goldene Zeitalter ist nicht angebrochen. Im Gegenteil: Die Welt ist unsicherer geworden, vor allem, weil ganz unterschiedliche Probleme und Konflikte sich gegenseitig überlagern und den Eindruck einer globalen Krisensituation verstärken. Drei grosse, alle anderen Probleme überlagernden Themen sind entscheidend für die Richtung, in die sich die Welt bewegt.

An erster Stelle steht die Klimaerwärmung, die wohl grösste Herausforderung der Menschheitsgeschichte. Derzeit ist keine Trendwende in Sicht, allen Deklamationen zum Trotz: Der Ausstoss von Treibhausgasen steigt weltweit weiter an, wie ein Bericht der Uno-Umweltbehörde für das Jahr 2018 dokumentiert. Es gibt ausser der Klimathematik kaum einen Politikbereich, bei dem man deutlicher spürt, dass alles irgendwie zusammenhängt, dass alle Bereiche menschlicher Existenz davon berührt werden. Es ist schlicht das fundamentale Problem der Gegenwart. Ein Problem, das nicht mit sektoriellen Einzelmassnahmen gelöst werden kann, sondern nur mit einem gigantischen Kraftakt der Weltgemeinschaft.

Obschon allen klar sein müsste, dass die globalen Probleme nur in globaler Kooperation angegangen werden können, geraten ausgerechnet die dafür geschaffenen internationalen und multilateralen Organisationen – allen voran die Uno – zunehmend in eine kritische Lage. Dabei waren es bisher gerade diese heute geschwächten Institutionen, welche die Ambitionen der Grossmächte etwas zurückbanden. Hinter dieser Entwicklung – und das ist der zweite Punkt – steckt eine zunehmende geopolitische Konkurrenz der Grossmächte, verschärft durch gefährliche regionale Konflikte in Nahost, auf dem indischen Subkontinent und im Fernen Osten. Damit einher geht eine neue Art von Systemkonkurrenz. Nicht mehr zwischen zwei Blöcken wie im Kalten Krieg, sondern zwischen Autoritarismus und Demokratie. Staaten wie China, Russland und andere Autokratien bedrängen mit unterschiedlichen Methoden die demokratischen Staaten. Selbst der Herr im Weissen Haus in Washington ist nicht frei von autoritären Anwandlungen. Europa ist damit global das letzte Bollwerk der liberalen Demokratie, und selbst in einigen EU-Mitgliedstaaten nistet sich der Autoritarismus ein, etwa in Ungarn und in Polen.

Eng damit zusammen hängt das dritte grosse Thema: Der nationalistische Reflex – nicht selten verbunden mit einem immer bedrohlicher bis in die Mitte der Gesellschaft vordringenden Rechtsextremismus in vielen Ländern – scheint immer deutlicher die fatale Antwort auf eine unübersichtliche Welt zu sein.

Diese und viele andere Themen habe ich in den vergangenen knapp sechs Jahren in meinem monatlichen «Blick in die Welt» thematisiert. Das ist nun aber meine letzte Kolumne. Ich verabschiede mich von meinen Leserinnen und Lesern mit einem herzlichen Dankeschön für ihr Interesse. Ihnen allen wünsche ich für das kommende Jahr viele «leere Blätter in der Weltgeschichte» und damit viele «Perioden des Glücks».

JÜRG MÜLLER
[email protected]

Herzlichen Dank
Lieber Jürg Müller, wir danken Ihnen für die angenehme Zusammenarbeit während den vergangenen sechs Jahren. Ihr «Blick in die Welt» – ein Blick über den Tellerrand hinaus – war eine Bereicherung für den «Anzeiger von Saanen». Die Artikel waren tiefgründig, hervorragend geschrieben, spannend und lehrreich. Gerade in der heutigen Zeit, in der Oberflächlichkeit, Schnelllebigkeit und Populismus einen wahren Aufschwung erleben, stellten Ihre Kolumnen einen Gegenpol dar. Wir wünschen Ihnen, lieber Jürg Müller, für die Zukunft alles Gute.

REDAKTION «ANZEIGER VON SAANEN»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote