Ohne Schulprüfung zum Lehrabschluss

  21.04.2020 Bildung

Der Bundesrat hat am Donnerstag einen Vorschlag der Kantone und Verbundpartner der Berufsbildung gutgeheissen. Demnach können angehende Berufsleute ihr Fähigkeitszeugnis trotz Corona-Krise fristgerecht erwerben.

Die lange Ungewissheit der rund 75’000 Schweizer Auszubildenden im letzten Lehrjahr hat ein Ende: Nun ist klar, wie ihre diesjährige Lehrabschlussprüfung ablaufen wird, die ihnen das Coronavirus komplett durcheinanderzubringen drohte.

Erleichterung auch bei den hiesigen 13 KV- und 10 Detailhandels-Auszubildenden, welche die Abschlussklasse der Wirtschaftsschule Thun Standort Gstaad besuchen. Denn nun wissen sie, was sie zum Lehrabschluss erwartet.

Praxisprüfung statt Schultheorie
Je nach Beruf soll laut Pressemitteilung des Bundes eine praktische Prüfung oder eine Beurteilung der praktischen Leistungen durch den Lehrbetrieb vorgenommen werden. Auf schulische Abschlussprüfungen wird dagegen dieses Jahr verzichtet. Stattdessen gilt die Erfahrungsnote, die sich aus den bisher abgelegten Prüfungen zusammensetzt.

Damit wird sichergestellt, dass alle Auszubildenden trotz den Auswirkungen des Coronavirus ein auf dem Arbeitsmarkt anerkanntes eidgenössisches Fähigkeitszeugnis beziehungsweise Berufsattest erhalten, wenn sie über die entsprechenden Kompetenzen verfügen. Sie werden also nicht mit einem negativen «Krisenstempel» ins Berufsleben einsteigen müssen.

Die Verordnung über die Qualifikationsverfahren 2020 in der beruflichen Grundbildung tritt laut bundesrätlichen Mitteilung zufolge sofort in Kraft und gilt bis am 15. Oktober 2020.

Wie die praktische Lehrprüfung aussehen soll
Jede Organisation der Arbeitswelt (OdA) soll für ihr eigenes Berufsfeld aus drei Varianten eine schweizweit durchführbare Prüfungsform auswählen und beantragen. Sie muss dabei auch aufzeigen, wie die vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfohlenen Schutzmassnahmen eingehalten werden können. Zur Auswahl stehen drei Varianten: Entweder wird eine individuelle oder vorgegebene praktische Arbeit im Lehrbetrieb durchgeführt. Geht dies nicht, wird eine vorgegebene, praktische Arbeit zentral durchgeführt. Wenn die Empfehlungen des Bundesamts auch so nicht eingehalten werden können, müssen die Verantwortlichen im Lehrbetrieb die praktischen Kompetenzen der Lernenden beurteilen. Dafür soll es ein einheitliches Beurteilungsraster geben.

Probleme bei der praktischen Durchführung
Laut Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes Travail Suisse, zeichnet sich ab, dass die praktische Prüfung in einigen Berufen schwierig werden wird. «Bei der Pflege, im Detailhandel und in einigen KV-Berufen rechnen wir nicht damit, dass praktische Prüfungen durchgeführt werden können», wird Wüthrich in der NZZ zitiert. Dort sei die Arbeitslast derzeit entweder zu hoch, oder es könne gar nicht gearbeitet werden. Bei einigen Branchen, wie bei der ICT-Branche, würde sich jedoch eine praktische Prüfung per Videokonferenz anbieten, so die Einschätzung von Christine Wanner, Inlandredaktorin bei SRF, in einem Radiobericht.

Marc Matti, Schulleiter der Filiale Gstaad der Wirtschaftsschule Thun, bestätigt auf Anfrage, dass der Antrag der beiden Organisationen der Arbeitswelt KV und Detailhandel so gestellt worden ist, dass man auf die betriebliche Prüfung verzichten will, damit ein einheitliches Vorgehen für alle Branchen für das Qualifikationsverfahren gilt.

Auswirkungen auch für die Berufsschüler im Saanenland
Konrektor Matti zeigt sich erleichtert, dass eine schweizweite anzuwendende Lösung gefunden wurde, die den Auszubildenden einen problemlosen Start in ihr künftiges Berufsleben ermöglicht. Bis spätestens Ende Juli werden alle Lernenden der hiesigen Berufsschule ihr Fähigkeitszeugnis (EFZ) erhalten.

Einen Sonderfall stellen laut Matti die IKA (Information/Kommunikation/ Administration)- und Englisch-Prüfungen der Kaufleute im zweiten Lehrjahr dar. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) muss noch darüber entscheiden, ob sie als Abschlussprüfungen gezählt werden, da die Schüler diese Fächer im zweiten Lehrjahr abschliessen. «Damit würden die Prüfungen unter die neuen Regelungen fallen und nicht stattfinden», so Matti. Wenn sie aber eher wie eine Zwischenprüfung eingestuft werden, würde zum aktuellen Stand an ihrer Durchführung festgehalten werden – allerdings mit noch offenen Terminen.

Noch mehr Konsequenzen des Lockdowns
Nicht nur die schulischen Abschlussprüfungen finden gemäss der neuen Verordnung nicht statt; es mussten aufgrund der Corona-Versammlungseinschränkung auch einige weitere Termine des Schuljahresendes abgesagt werden. So müssen die Berufsschüler aus dem Saanenland und Thun dieses Jahr auf die gemeinsamen Sporttage im Juni verzichten. Auch die Diplomfeier, die normalerweise Ende Juni feierlich begangen wird, könne leider nicht stattfinden.

Als positiv empfand Matti den Umstieg der Schule auf den digitalen Unterricht. Dieser sei mehrheitlich reibungslos verlaufen: «Zugute kam der Schule hierbei sicher, dass sie bereits seit letztem Sommer mit dem ersten Lehrjahr KV digital unterwegs ist.»

Appell an Lehrbetriebe und angehende Lehrlinge
Marc Matti denkt aber bei all den Absagen und Veränderungen besonders an die Lehrbetriebe. «Der Lockdown hat für unsere Lehrbetriebe viel einschneidendere Auswirkungen. Teile davon mussten schliessen und sich an die Vorgaben des Bundes halten. Unsere Schule und unser Standort überleben aber nur mit gut funktionierenden Lehrbetrieben.» Konkret heisse das, dass sich für dieses Jahr genügend Jugendliche und Lehrbetriebe finden und einen Lehrvertrag abschliessen mögen, so die Hoffnung des Konrektors.

Modalitäten für Berufsmaturität noch offen
Für die Berufsmaturität sowie andere Maturitätsprüfungen (gymnasiale Maturität, Fachmaturität, Passerellen) gelten aktuell noch die geplanten Prüfungstermine. Die Federführung liegt bei der EDK unter Einbezug des Bundes. Gemeinsam verfolgen sie das Ziel, dass alle Schülerinnen und Schüler der Abschlussjahrgänge ihre Abschlusszeugnisse termingerecht erhalten und sich fristgemäss an den Institutionen der Tertiärstufe einschreiben können. Über die Modalitäten bezüglich Maturität soll laut Pressemitteilung des Bundesrates bis spätestens Anfang Mai entschieden werden.

PD/ SONJA WOLF


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