Das Spiel geben

  15.05.2020 Serie

Das Leben ist ein ständiges Geben und Nehmen. Jassen auch. Ohne Karten zu geben und Karten zu nehmen ist Jassen nicht möglich. Beim Jassen ist jedoch klar geregelt, wer geben und wie viel gegeben werden muss, und wer nehmen und wie viel genommen werden darf. Diese Abmachungen sorgen für einen fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen. Diese Regeln helfen mit, dass die Jassrunden in den allermeisten Fällen harmonisch verlaufen. Denn das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen ist eine der Voraussetzungen für eine harmonische und fröhliche Jassrunde. Auch in der Partnerschaft, in der Familie und in der Gesellschaft lassen sich grössere und kleinere Konflikte oft nur vermeiden, wenn die Balance zwischen Geben und Nehmen ausgewogen ist. Aber nicht nur Nehmen, sondern auch Haben, ohne etwas zu geben sei in vielen Fällen schlechter als Stehlen, schreibt Marie von Ebner-Eschenbach dazu. Aber auch nichts haben und trotzdem keine Hilfe annehmen, ist keine gute Lösung und zeugt wohl von falschem Stolz. «Glücklich machen ist das höchste Glück! Aber auch dankbar empfangen können, ist ein Glück.» (Theodor Fontane)

Nach dem Mischen und Abheben verteilt der Spielgeber die Karten. Bei den allermeisten Jassvarianten bekommen alle Mitspielenden gleich viele Karten. Aber nicht alle bekommen gleich gute Karten. Nicht alle bekommen die Karten, die sie gerne hätten. Und die grosse Kunst besteht dann schliesslich darin, mit den Karten, die man aufgenommen hat, das Beste zu machen. Das ist beim Jassen ganz selbstverständlich. Und es kommt kaum jemandem in den Sinn, dem Spielgeber vorzuwerfen, er oder sie habe die Karten ungerecht verteilt. Man nimmt auch die Karten auf, die man lieber nicht hätte. Im Alltag hat man dagegen oft viel schneller das Gefühl, das Leben sei ungerecht. Und manchmal hat man sogar Mühe zu akzeptieren, dass es den anderen so viel besser geht als einem selbst. Aber absolute Gerechtigkeit gibt es nicht – weder beim Jassen noch im Leben.

Wenn beim Jassen dem Spielgeber ein Fehler passiert und nicht alle Mitspielenden gleich viele Karten erhalten, wenn beim Verteilen ein Kartenbild sichtbar ist oder wenn am Schluss des Verteilens eine Karte fehlt, dann gilt das Spiel als vergeben. Die Karten müssen wieder zusammengelegt, neu gemischt, abgehoben und gegeben werden. Es spielt keine Rolle, ob man vorher sehr gute oder schlechte Karten bekommen hat. Und es hilft auch nichts, den guten Karten nachzutrauern, die man wieder auf den Stapel zurücklegen muss. Wenn ein Spiel vergeben ist, fängt man also noch einmal ganz von vorne an. Und das ist ein schönes Symbol dafür, was Vergebung im Alltag bedeuten könnte: Man beginnt noch einmal ganz neu und redet nicht mehr über das, was gewesen ist.

«Vergeben» kann übrigens ganz Verschiedenes bedeuten. Wenn zum Beispiel Arbeiten oder Aufträge vergeben werden, wird bestimmt, wer die Arbeiten ausführen darf oder muss. Wer eine Chance vergibt, hat sein Glück nicht genutzt. Wer mit einer Frau, die schon vergeben ist, ein Rendez-vous abmachen möchte, kommt zu spät. Wer beim Jassen ein Spiel vergibt, muss die Karten noch einmal mischen und neu verteilen. Und wer anderen einen Fehler, eine Schuld oder eine Enttäuschung vergibt, fängt noch einmal ganz neu an. Wer im Alltag Vergebung schenkt, durchbricht so den alten Grundsatz «Auge um Auge» und folgt nicht dem verhängnisvollen Prinzip «wie du mir, so ich dir». Wer im Alltag Vergebung schenkt, mischt die Lebenskarten ganz neu und schafft so ein Fundament, auf dem eine neue und gute Zukunft aufgebaut werden kann. Denn ohne Vergebung und Versöhnung ist ein friedliches Zusammenleben der Menschen und Völker kaum möglich. Und ohne dem Spielgeber, der ein Spiel vergeben hat, zu vergeben, ist auch keine fröhliche Jassrunde mehr möglich.

ROBERT SCHNEITER


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