Das Ausspielen und Vorspielen

  23.06.2020 Leserbeitrag

«Wer die Wahl hat, hat die Qual.» Dieses Sprichwort hört man etwa auch beim Jassen. Vor allem dann, wenn man bei einem Schieber geschoben hat, der Partner macht «Obenabe» oder «Undenufe» und man hat kein Ass oder keinen Sechser. Welche Farbe und welche Karte soll man in diesem Fall ausspielen? Zur Wahl stehen neun Karten. Doch welche führt zu einem guten Ziel? Vielleicht hat man eine Farbe, mit der man – wenn alles gut läuft – selber wieder ins Spiel kommen könnte. Aber manchmal läuft es eben gerade nicht gut und man spielt mit der ersten Karte ausgerechnet dem Gegner in die Hände. Und wenn es ganz schlecht läuft, schenkt man dem Gegner mit der ersten Karte sogar die Möglichkeit eines Kontermatches. Wie beim Skisport gibt es auch beim Jassen «Einfädler». Man kann nichts mehr verändern, und die Gegner freuts.

Es gibt aber auch viele Situationen beim Jassen, in denen die Wahl überhaupt nicht qualvoll, sondern eher lustvoll ist. Zum Beispiel dann, wenn man an der Reihe ist, Trumpf anzusagen, und einen aufgelegten Match in den Händen hat. Oder dann, wenn man so gute Karten hat, dass man gleich zwei oder drei vielversprechende Trumpfvarianten wählen könnte. In solchen Momenten besteht die Qual vor allem darin, dass man sich nur ganz verhalten freuen darf, um ja nichts zu verraten.

Nicht nur zu Beginn eines Spiels, sondern auch dann, wenn man einen Stich gemacht hat, muss oder darf man nachher ausspielen. Mit der Hand voller Trumpf- oder Bockkarten kann man dabei fast nichts falsch machen. Aber häufig kommt es anders, als man es gerne hätte, und gute Ideen und Gedanken sind gefragt. In solchen Augenblicken wird dann deutlich, dass Jassen auch ein gutes Hirntraining ist. Denn es ist immer hilfreich, wenn man den Verlauf des Spiels einigermassen im Kopf hat. Dass man zum Beispiel weiss, welche Trümpfe oder Karten bereits gegangen sind. Dass man weiss, welche Farbe der Partner und die Gegner verworfen haben. Und dass man weiss, welche Farbe der Partner oder die Gegner gerne hätten. Das alles kann man jedoch nur wissen, wenn man vorher auch gut beobachtet hat. Denn mit den Karten, die man ausspielt, kann man ohne Worte und ohne das Spiel zu verraten einander mitteilen, wo man stark und wo man schwach ist. Geübten Spielern und Spielerinnen gelingt es so manchmal, auch mit schlechten Karten gut über die Runden zu kommen. Vor fast 2000 Jahren schrieb Plinius: «Leben heisst beobachten.» Und das gilt ganz besonders fürs Jassen. Denn «Jassen heisst beobachten».

Beobachten und wissen, was gegangen ist, genügen aber nicht immer. Um Jass-Strategien zu entwerfen und umzusetzen, braucht es auch noch das Denken. Wer den Verlauf des Spiels gut im Kopf behalten kann, wird erst ein guter Jasser, wenn er seine Beobachtungen geschickt umsetzen kann.

Für den flüssigen Verlauf eines Spiels ist es nötig, dass möglichst alle den Spielverlauf einigermassen im Kopf haben. So muss nicht jeder Mitspielende vor dem Ausspielen immer wieder lange werweissen, welche Karte er oder sie ausspielen sollte. Denn wenn vor dem Ausspielen zu lange hin und her überlegt werden muss, kann es passieren, dass plötzlich jemand zu einem Stich ausspielt, ohne an der Reihe zu sein. Und weil die irrtümlich ausgespielte Karte wieder zurückgenommen werden muss, verliert sie den Stechwert – nicht aber den Zählwert. Oder wenn vor dem Ausspielen einer Karte zu lange hin und her studiert wird, kann es passieren, dass jemand die Geduld verliert und vorspielt. Und wer vorspielt und eine Karte zu früh auf den Tisch legt, bevor der links von ihm sitzenden Spieler seine Karte gegeben hat, darf die zu früh gespielte Karte dann nicht mehr zurücknehmen. Es ist wie bei Worten, die man zu schnell und unüberlegt gesagt hat. Man kann auch Worte nicht mehr zurücknehmen und so tun, als hätte man nichts gesagt.

Immer, wenn einzelne Mitspielende länger nachdenken müssen als andere, ist Jassen also nicht nur Hirntraining, sondern auch ein Geduldssport. Oder immerhin eine gute Gelegenheit, Geduld zu üben. Und solche Gelegenheiten sollte man eigentlich gut nutzen. Denn wer beim Jassen die Geduld nicht verliert, dem gelingt auch sonst manches im Leben.

ROBERT SCHNEITER


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