Die Weisregeln

  09.06.2020 Leserbeitrag

Jassen ist ein Glücksspiel. Doch was ist Glück? Glück ist ein «besonders günstiger Zufall». Oder man könnte auch sagen: Glück ist eine «erfreuliche Fügung des Schicksals.» Und diese Definitionen gelten auch fürs Jassen. Vor allem bei all den Jassvarianten, bei denen man einen Weis melden kann. Denn einen Weis in den Händen zu halten, ist ein «besonders günstiger Zufall». Wenn man grosses Glück hat, kann man zum Beispiel mit Weisen in einem Spiel sogar mehr Punkte holen als mit Spielen. Oder auch auf der Zielgeraden kann das Weis-Glück manchmal sogar spielentscheidend sein. Wenn zum Beispiel beim Schieber beide Parteien im letzten Spiel mit dem ersten Stich das Ziel erreichen und siegen könnten, gilt in der ganzen Schweiz die Ausmachregel: «Stöck, Wys, Stich.» Wer die Stöcke hat, hat also das Glück auf seiner Seite. Und das Glück zählt in diesem Fall mehr als das Können.

Im Gegensatz zum Alltag ist das Glück beim Weisen aber klar reglementiert. Die Parteien müssen nicht ständig darüber diskutieren, welcher Weis nun gilt und welcher nicht. Im Jassreglement ist klar festgehalten, was gewiesen werden kann und welcher Weis letztlich geschrieben werden darf.

Das deutsche Wort «Glück» stammt aus dem Mittelalter. «Gelücke» bedeutete ursprünglich, dass etwas «gut ausgeht». Aber: «Glück und Glas, wie leicht bricht das.» Auch beim Jassen ist das Glück etwas sehr Zerbrechliches. Nicht immer geht das Kartenglück gut aus. Denn beim Weisen zählt nur das höchste Glück. Sogar vier Asse sind zum Beispiel noch kein sicheres Glück. Wenn der Gegner nämlich an der Reihe ist, Trumpf zu machen, und «Undenufe» ansagt und dazu noch vier Sechser hat, dann ist die Freude an vier Assen von kurzer Dauer. Denn beim «Undenufe» haben nicht die Asse den höchsten Punkte- und Stechwert, sondern die Sechser. Oder die Freude an 100 Weispunkten von vier Königen kann sich sehr schnell in nichts auflösen, wenn die gegnerische Partei ein Fünfblatt von einem Zehner weisen kann. Denn die Anzahl zusammengehörender Karten macht letztlich glücklicher als der Stechwert der Karten. Aber trotz dem Verlust von Weispunkten, die man auf sicher glaubte, darf man sich glücklich fühlen, wenn man in einer fröhlichen Jassrunde mitspielen kann. Denn im Gegensatz zum Kartenglück, das man nicht beeinflussen kann, hat das Glücklichsein etwas mit der inneren Einstellung zu tun. Übrigens: Weil das Weis-Glück nichts mit Können zu tun hat, zählen bei Jassturnieren die Stöck- und Weispunkte nicht. Da zählt nur das Kartenglück.

Mathematiker kennen sogar Formeln, wie man die Chance, Glück zu haben beim Kartenspiel, berechnen kann. Aber keine Formel garantiert, dass man berechnen kann, wann das Glück auch wirklich eintreffen soll. Laut diesen Formeln sollten Spielende ungefähr bei jedem fünften Spiel ein Dreiblatt weisen können. Und vier Buben, für die man 200 Punkte bekommt, kommen nach diesen Formeln dreimal häufiger vor als ein Sechsblatt, für das man 150 Punkte bekommt.

Im Jassreglement steht nicht nur, was gewiesen werden darf, sondern auch wann und wie gewiesen werden muss. Auch der richtige Zeitpunkt, einen Weis zu melden, ist reglementarisch festgehalten. Das heisst: Der Weis muss gleichzeitig mit dem Ausspielen der ersten Karten angesagt werden, ohne bei der Weismeldung die Karten zu verraten. Es darf darum immer nur die Weishöhe angesagt werden. Und sobald die ausgespielte Karte vom nächsten Spieler gedeckt wird, darf nicht mehr gewiesen werden. Damit «Spätzünder» keine Chance haben, plötzlich doch noch einen Weis zu melden, werden die ausgespielten Karten jeweils möglichst schnell abgedeckt. Wenn man einen Weis zu spät entdeckt oder vergessen hat, ihn anzumelden, sollte auch nicht mehr darüber gesprochen werden. Und das aus zwei Gründen: Erstens grenzt es an Spielverrat und zweitens erspart man sich so die Rüge des Spielpartners, weil man etwas vergessen hat. Vielleicht verpassen einige Spieler sogar ab und zu das kleine Glück, ein Dreiblatt weisen zu können, weil sie vor allem auf das grosse Glück, ein Vierblatt weisen zu können, warten. Aber die fehlende vierte Karte will einfach nicht kommen. Beim Jassen und im Alltag gilt darum die gleiche Regel: das kleine Glück erkennen, sich darüber freuen und es mit den anderen teilen, bevor es zu spät ist.

ROBERT SCHNEITER


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