Die nahe weite Welt

  28.08.2020 Leserbeitrag

Das Reisen ist in diesem Sommer bekanntlich nicht so einfach, wie es sich viele Menschen gewünscht hätten. Das hat viele negative und positive Folgen. Eine davon ist, dass sich eine ganz neue Urlaubergruppe Ziele in der Schweiz vornimmt.

Im Berner Oberland ist man es gewohnt, dass neben Reisenden aus allen möglichen Ländern auch viele Schweizer die Naturschönheiten in der Gegend besuchen. In meiner Heimat, dem Glarnerland, sieht das etwas anders aus. Natürlich haben wir ein paar schöne Naturgebiete, die winters wie sommers von Tagesausflüglern besucht werden. Aber in den Dörfern des Haupttals merkt man davon fast nichts. Bis jetzt äusserten sich Touristen im Hauptort Glarus hauptsächlich durch eine Blechlawine, die im Sommer aus Ausflüglern besteht, die über den Klausenpass fahren und im Sommer aus skibepackten Vans, die in die Skigebiete im hinteren Kantonsteil fahren.

In diesem Sommer ist alles anders. Zum ersten Mal habe ich in Glarus Touristen angetroffen, die sich unseren Flecken als Reiseziel ausgesucht haben. Sie fragen nach der Altstadt, die es nicht gibt (weil Glarus vor 160 Jahren praktisch komplett niedergebrannt ist), suchen schicke Restaurants (die es tatsächlich gibt, man muss nur wissen wo) oder machen Selfies im schicken Park beim Bahnhof. Auffallend viele Menschen sprechen dabei eine andere Sprache: Es sind Westschweizer, die mit ihrer Reise ins Glarnerland ihren Horizont erweitern wollen. Ich habe mich davon inspirieren lassen und bin diesen Sommer nach La Chaux-de-Fonds gereist. «Ausgerechnet die Stadt, welche genau gleich wie Glarus schachbrettartig aufgebaut ist» oder «Aber dort hats doch keinen See?» musste ich mir im Freundeskreis anhören. Ich habe dann argumentiert, dass genau das mein Ziel war: Ich wollte nicht einfach an einen schönen Ort reisen, sondern an einen, in dem ich das Leben in der Westschweiz in vollen Zügen erkunden kann.

Das ist gelungen. In La Chaux-de-Fonds gibt es nicht nur besseren Wein als in Glarus, sondern auch eine ganz anderen Umgang mit dem Leben. Savoir-vivre ist auch in Pandemie-Zeiten eine Lebenseinstellung, die diesen Ort prägt.

Meine persönliche Erkenntnis hat aber nicht nur mit den Lebens- und Essensgewohnheiten zu tun, sondern natürlich einen politischen Hintergrund: Aus meiner Sicht müssen weder die Glarner probieren, mehr wie die Neuenburger zu sein noch umgekehrt. Aber es ist für den politischen Zusammenhalt in diesem Land zentral, dass man sich bewusst ist, dass es auch eine andere Sichtweise auf die Welt gibt als die eigene.

Mich auf jeden Fall lassen die Gespräche aus La Chaux-de-Fonds einiges überdenken, was bei mir bis jetzt als Gewissheit gespeichert war. Nicht, dass ich jetzt ein Befürworter der Begrenzungsinitiative wäre, aber bei der nächsten Abstimmung werde ich mir gut überlegen, was die eine oder andere Grenzlockerung für die Kantone bedeutet, die einerseits auf Grenzgänger angewiesen sind, aber auch darunter leiden, dass ihre Handwerker in direkter Konkurrenz zu französischen Handwerkern stehen, die sehr viel billiger zu haben sind.

Das beste Gespräch hatte ich im Übrigen mit Pierre: Er ist Pensionär und hat mir bei einem Glas Rotwein ausführlich erläutert, warum das Schachbrettmuster in La Chaux-de-Fonds so gar nichts mit dem Schachbrettmuster in Glarus zu tun hat. Er war in diesem Frühsommer in Glarus zu Gast.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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