"Ich habe mich ab und zu ein bisschen über die Schweiz aufgeregt"

  04.08.2020 Saanenmöser

FESTANSPRACHE IN SA ANENMÖSER VON NINA HEHLEN

Liebe Anwesende, liebe Mitfeiernde
Schön, dass ihr alle hier in Saanenmöser seid. Ich habe lange überlegt, was ich euch heute Abend alles so erzählen soll. Habe mich gefragt, was ihr denn gerne hören möchtet, weil … ich so was noch nie gemacht habe.

Ich habe darauf angefangen ein bisschen zu reflektieren, was mich denn mit der Schweiz verbindet, weil die Beziehung zwischen uns beiden anfangs etwas holprig war. Ich wollte schon immer ins Ausland gehen, am liebsten ganz weit weg, am allerliebsten auf meinen Sehnsuchtskontinent Lateinamerika. Ich fand alles andere speziell und interessant. Ich habe Bücher über exotische Länder und Abenteuerreisen nur so verschlungen, während mich alles andere ziemlich kalt gelassen hat.

Aber wieso denn eigentlich, wenn es doch so schön heisst: «Warum in die Ferne schweifen, sieh, das Gute liegt so nah»? Mit dieser Frage habe ich mich dank euch nun zum ersten Mal so richtig auseinandergesetzt, weil mir aufgefallen ist, dass es mir hier, vor allem im schönen Saanenland, doch ganz gut gefällt.

Nun gut, zurück zur Reflektion und den Gründen, wieso ich denn lieber weg wollte, als hier zu bleiben und jetzt wirds ein bisschen ehrlich – also nicht beleidigt sein –, die Versöhnung kommt dann zum Schluss. Es muss ja auch ein bisschen Spannung dabei sein, oder? Also, es war so: Ich habe mich ab und zu ein bisschen über die Schweiz aufgeregt. Dass hier alles so geregelt, so eng, so stur, so sauber und so perfekt ist. Dass die normalen fünf Minuten Verspätung schon verurteilt werden und dass, wenn man auf der Rolltreppe am falschen Ort steht, man sicher den einen oder anderen bösen Blick zugeworfen bekommt. Auch, dass, wenn man sich etwa im öffentlichen Raum etwas zu laut unterhält oder man im Zug sich zu jemandem ins Abteil setzt, das hierzulande nicht so gut ankommt. Auch waren mir die Schweizer und Schweizerinnen zu introvertiert, zu kalt und zu wenig temperamentvoll.

Deswegen hiess es für mich immer wieder, wann immer möglich, die fernen Länder zu entdecken, die eigene Komfortzone und das gewohnte Umfeld zu verlassen. Am besten sechs Monate als Freiwillige nach Ecuador, ein Auslandsemester in Kanada oder arbeiten in Mexiko. Einfach möglichst nicht zurück in die Schweiz.

Natürlich habe ich meine Familie, meine Freunde und vor allem unseren Hund vermisst, aber das nahm ich in Kauf, damit ich etwas Neues entdecken durfte. Dieses Neue war dann, wie es immer ist im Leben: manchmal toll, manchmal weniger. Ich vergesse beispielsweise nie mehr, wie es war, als ich das erste Mal gesehen und erlebt habe, was es heisst, arm, richtig arm zu sein. Von der Hand in den Mund zu leben, keine soziale Sicherheit oder Unterstützung zu bekommen. Was es heisst, dass gute Bildung nicht selbstverständlich ist oder dass diese saubere Luft, die wir hier haben, nur annähernd so sauber sein kann nach zwei Wochen Regen.

Und ja, jetzt kommts, das, was mit diesen Reisen und Erlebnissen kam – und wer hätte das gedacht: Ich habe meine Heimat schätzen gelernt. Ich habe gemerkt, dass das, was wir hier haben, nicht selbstverständlich ist und mühsam erarbeitet wurde. Dass viele gänzlich eifersüchtig wurden, wenn sie meinen Schweizer Pass gesehen haben und die (meist) vornehmliche Behandlung, die damit einhergeht. Da wurde mir bewusst: Nina, du hast ein Privileg. Du kannst rausgehen, entdecken, an deine Grenzen stossen und du kannst vor allem jederzeit in ein Land zurück, das dich hält, das dich unterstützt. Und das auf viele Arten und Weisen, sei es in der Bildung, in der persönlichen Weiterentwicklung, mit den fast unbegrenzten Möglichkeiten in der Arbeitswelt oder sei es einfach ohne Angst in der Nacht sicher nach Hause zu kommen. Die Schweiz hat etwas zu bieten, was fast kein anderes Land kann: Sicherheit in allen Belangen.

Ich bin mir sicher, ich hätte meine Zeit im Ausland, meine Reisen, niemals so geniessen können, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich immer ein sicheren Hafen habe, um nach Hause zu kommen.

Und lustigerweise habe ich auch gemerkt, dass ich zu allem hinzu mehr Schweizerin bin, als mir früher lieb gewesen wäre. Denn ich habe mich ab und zu mal ertappt, wie ich gesagt habe: «Also so würde das in der Schweiz nicht laufen, also so lange müsste ich in der Schweiz niemals anstehen, also in der Schweiz würdest du mit dieser Arbeitsmoral sicher nicht eingestellt werden.» Zuverlässigkeit und Genauigkeit sind im Ausland oft Fremdwörter.

Auch habe ich bemerkt, dass ich doch oft von Stolz erfasst wurde, wenn mich jemand nach meiner Heimat gefragt hat und ein paar Fragende daraufhin neugierig wissen wollten, ob bei uns wirklich jeder eine Kuh zu Hause hat und zum Frühstück Schokolade isst. Oder wenn gefragt wurde, wieso es uns denn so gut geht. Und ich glaube, genau darauf, auf alle Ecken und Kanten dieses Landes, dürfen wir heute Abend stolz sein: stolz auf die Schweiz, aber auch stolz auf uns, weil jeder einzelne seinen Teil dazu leistet, dass dieses Konstrukt so gut funktioniert und wir dieses Privileg haben.

Deswegen lasst uns nun alle darauf anstossen, dass dies noch viele Jahre so bleiben mag, dass wir auch ab und zu zugeben, ohne uns zu schämen, dass wir stolz auf die Schweiz sind, wie es mir übrigens heute Abend passiert ist, und dass wir noch viele Reisende wieder hier begrüssen dürfen, da ihnen das gleiche passiert wie mir.

NINA HEHLEN


NATIONALFEIER IN SAANENMÖSER

Rund 50 Personen – in anderen Jahren sind es um die 150 – konnte Solveig Lanz, Präsidentin der Dorforganisation Saanenmöser, zur Nationalfeier begrüssen, welcher sie das Motto gab: «Wir feiern in einem neuen Kleid, bei dem weniger mehr ist». Musikalisch untermalt wurde die Feier von den Alphornbläsern Stefan Karnusian und Janne Kernen – beide aus Saanenmöser. Ortsansässig ist auch die diesjährige Festrednerin Nina Hehlen. Sie ist 1995 geboren und aufgewachsen in Saanenmöser. «Das Saanenland ist meine Heimat, mein Rückzugsort, um Energie zu tanken und abzuschalten, es ist der schönste Fleck auf Erden.» Ihre Ausbildung: Bachelor in BWL (HSG), Master Double Degree in International Management & Business Innovation (HSG). Ihre Hobbys sind Skifahren, Langlaufen, Schwimmen und Tanzen.

Alphornklänge schlossen die schöne und gemütliche Feier ab.

ANITA MOSER


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