Bergpreis und Schneider
13.10.2020 LeserbeitragDer «Bergpreis» und der «Schneider» haben etwas gemeinsam: Bei beiden geht es nur um die Hälfte. Das Team, das zuerst die Hälfte der festgelegten Punktezahl erreicht, gewinnt den Bergpreis. Und das Team, das am Ende des Spiels die Hälfte der festgelegten Punktezahl nicht erreicht hat, ist «nicht aus dem Schneider» und schenkt dem gegnerischen Team zusätzliche Punkte. Aber weil es beim Bergpreis nur um die Hälfte geht, ist auch das Team, das den Bergpreis gewonnen hat, noch lange nicht am Ziel und kann das Spiel letztlich auch noch verlieren. Wie bei der Tour de Suisse muss man sich also auch beim Jassen nach dem Bergpreis anstrengen und versuchen, den Vorsprung ins Ziel zu retten. Oder man kann auch sagen: Wer den Bergpreis gewinnt, ist noch lange nicht über dem Berg. Denn es braucht ja noch einmal so viele Punkte, wie man schon erreicht hat. Wer nach eine Krankheit auf dem Weg der Besserung ist, hat normalerweise das Schlimmste hinter sich und ist über dem Berg. Die Spieler, die beim Jassen den Bergpreis gewinnen, müssen jedoch damit rechnen, dass sie plötzlich nur noch «schlechte» Karten bekommen und dass es nur noch abwärts geht.
Übrigens sollte man sich der Sache ganz sicher sein, wenn man den Bergpreis anmelden will. Denn der Bergpreis geht automatisch an die gegnerische Partei, wenn man den Bergpreis anmeldet, obwohl man die erforderlichen Punkte noch nicht ganz erreicht hat.
Da die Spielenden, die auf der Strecke bleiben und «nicht aus dem Schneider sind», auch noch bestraft werden, erleben sie spielerisch das, was Millionen von Menschen weltweit tagtäglich am eigenen Leib erfahren müssen. Ohne eigenes Verschulden bleiben viele Menschen gesellschaftlich und wirtschaftlich auf der Strecke und werden zusätzlich mit Hunger und Elend bestraft, während die Sieger immer grössere Gewinne einfahren können. Michail Gorbatschow sagte dazu: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.»
In früheren Zeiten war der Beruf des Schneiders ein kaum anerkennenswerter Beruf. Die Schneider und Schneiderinnen gehörten zu den Berufsgruppen, die sehr oft auf der Seite der Verlierer standen. So wie heute die vielen Tausend Schneider und Schneiderinnen in den Billiglohnländern, die ununterbrochen für einen Hungerlohn arbeiten müssen, damit in unseren Breitengraden günstige und billige Kleider gekauft werden können. Die traurige Situation der Schneider wurde auch schon sehr früh auf das Kartenspielen übertragen. Wer beim Spielen verlor, war «Schneider». Doch wer mehr als die Hälfte der vereinbarten Punkte hatte, war «aus dem Schneider» und hatte nicht mehr so viel zu verlieren.
Die Redensart «aus dem Schneider sein» hat sich vom Kartenspiel schliesslich auf den Alltag übertragen. Wer sich aus einer schwierigen Situation befreien kann und sich wieder in einer günstigeren Lage befindet, kann auch heute noch sagen: «Ich bin aus dem Schneider.» In gewissen Gegenden war man in früheren Zeiten übrigens auch «aus dem Schneider», wenn man das dreissigste Altersjahr hinter sich hatte. In diesem Sinne dürfen sich auch heute alle über Dreissigjährigen freuen, die beim Jassen ab und zu nicht «aus dem Schneider sind», denn im Leben sind sie trotzdem schon «aus dem Schneider».
ROBERT SCHNEITER