Das Schreiben

  27.10.2020 Leserbeitrag

Sobald der letzte Stich gekehrt ist, wird abgerechnet. Die erzielten Kartenpunkte und die fünf Punkte des letzten Stichs werden gezählt und Erfolg oder Misserfolg werden auf einer Jasstafel aufgeschrieben. Alle Mitspielenden müssen aber jederzeit mühelos erkennen können, wie der Spielstand ist. Aus diesem Grund darf auf der rechten Seite der Tafel von den verbleibenden Punkten jeweils nur eine gültige Zahl stehen. Die Schreibenden haben jedoch immer genügend Zeit, eine übersichtliche Buchhaltung zu führen.

Manchmal hört man etwa den Spruch: «Ein guter Schreiber ist viel wert.» Und unter einem guten Schreiber versteht man in diesem Fall natürlich jemand, der ganz unbemerkt auch mal ein paar Punkte mehr schreibt, als erlaubt wäre. Aber Jassresultate aufschreiben ist immer eine Ehrensache. Wer in Versuchung gerät, auf der Jasstafel zu mogeln, könnte auch in ganz entscheidenden Momenten des Lebens in Versuchung geraten zu schummeln. Wie überall im Leben gilt darum auch beim Jassen der biblische Grundsatz: «Wer im Kleinsten treu ist, ist auch im Grossen treu.» (Lk 16,10)

Die Darstellung der Jassbuchhaltung ist klar reglementiert. Für 100, 50 und 20 Punkte gibt es je einen Strich. In der obersten Reihe werden die Hunderter, in der mittleren die Fünfziger und in der untersten die Zwanziger aufgeführt. So muss man nicht jedes Mal mühsam die Zahlen zusammenzählen, wenn man den aktuellen Punktestand wissen möchte. Die Siegesprämien nach einer Partie werden jeweils auf der Rückseite der Tafel aufgeführt.

Für eine gemütliche Jassrunde ist es praktisch, wenn man neben den Karten auch noch einen Jassteppich, eine Jasstafel, Jasskreiden und vor allem ein nasses Schwämmchen hat. Das nasse Schwämmchen ist sehr wichtig. Denn so kann nach jeder Partie die Tafel gereinigt werden, und das Spiel kann wieder ganz neu beginnen. Am Ende des Tages fährt das nasse Schwämmchen auch über die Siegesprämien auf der Rückseite der Tafel und löscht sie aus. Die saubere Tafel ist dann bereit für eine nächste Jassrunde. Mit andern Worten: Am Ende heisst es beim Jassen immer: «Schwamm darüber.» Ob man gewonnen oder verloren hat, ob einem ein Fehler passiert ist oder nicht, ob man einander in der Hitze des Gefechts etwas vorgeworfen hat oder einander für einen besonders cleveren Spielzug gelobt hat – all das spielt am Schluss keine Rolle mehr und schon bald spricht man auch nicht mehr darüber.

«Schwamm darüber.» Der Ursprung dieser Redensart liegt in den Wirtshäusern. Die Getränke und Speisen wurden früher nicht auf einen Kassenbon gedruckt, sondern mit Kreide auf einer Tafel notiert. Wenn am Abend die Zeche bezahlt war, fuhr der Kellner mit einem nassen Schwamm darüber und die Schuld war erledigt. Wer nicht bezahlen konnte, blieb «in der Kreide stehen».

«Schwamm darüber!» Beim Jassen macht man das auch heute noch regelmässig. Und die Redensart wird auch heute noch benutzt, wenn wir eine unangenehme Angelegenheit abhaken, nicht mehr darüber sprechen, die ganze Geschichte vergessen und Frieden finden wollen. Doch das, was beim Jassen mit einem nassen Schwämmchen so einfach zu vollbringen ist, kostet im Alltag oft recht grosse Überwindung. Da fehlt einem oft das «nasse Schwämmchen» und das, was man gerne vergessen möchte, taucht in einer schwachen Stunde plötzlich wieder auf, blockiert die guten Gedanken und stört den inneren Frieden. In solchen Augenblicken kann es hilfreich sein, sich an eine gereinigte Jasstafel zu erinnern. Auf den Tafeln, über die der Schwamm gefahren ist, haben die Zahlen aus früheren Spielen keinen Platz mehr. Das Alte ist wirklich vergangen. Die Jasstafeln sind bereit für Neues. Und das, was auf den Jasstafeln möglich ist, kann auch im Alltag gelingen. Vielleicht muss man zu dem, was man sowieso nicht mehr ändern kann, einfach noch viel bewusster sagen: «Schwamm darüber.»

ROBERT SCHNEITER


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