Der Schieber

  10.11.2020 Leserbeitrag

Der Schieber gehört zu den beliebtesten Jassarten in der Schweiz. Je zwei Spieler oder Spielerinnen bilden zusammen ein Team und versuchen miteinander möglichst viele Punkte zu machen. Aber der Schieber ist nicht nur ein Spiel, sondern auch eine kleine Lebensschule. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Im Zusammenspiel mit dem Teampartner müssen darum nicht nur die Spielregeln des Jassens, sondern auch diejenigen des Zusammenlebens beachtet werden. Beim Schieber kann man nicht für sich alleine gewinnen. Aber man muss auch nicht alles selber machen. Wenn das Spiel gelingen soll, dann braucht man einander. Und auch Erfolg oder Niederlage teilt man miteinander. Wenn man gewinnt, erlebt man «doppelte Freude». Und wenn man verliert, erlebt man nur «halbes Leid».

Doch damit das Miteinander gelingen kann, muss man genau beobachten, was der oder die andere macht. Man muss zum Beispiel schauen, welche Farbe der Partner verwirft und darum nicht möchte. Und man muss schauen, welche Farbe der Partner anzieht und darum gerne hätte. Und wenn man genau beobachtet und richtig gespielt hat, und es trotzdem nicht gut herauskommt, dann liegt es wohl an den Karten und man muss die Verantwortung nicht alleine tragen.

Das Zusammenspiel gelingt jedoch nicht immer so, wie man es gerne hätte. Es kann vorkommen, dass der Partner einen so gravierenden Fehler macht und dadurch den Matsch vermasselt. In solchen Situationen kann man beim Schieber lernen, mit Schwächen anderer wohlwollend umzugehen, ohne gleich die gute Laune zu verlieren. Es kann aber ebenso gut vorkommen, dass man auch selber spielentscheidende Fehler macht und froh ist, wenn der Partner grosszügig darüber hinwegschaut. Gegenseitiges Wohlwollen macht es einem letztlich leichter, zu den eigenen Fehlern zu stehen und aus den eigenen Fehlern zu lernen.

Schliesslich kann man beim Schieber auch lernen, einander zu vertrauen und dem Partner etwas zuzutrauen. Denn man hat die Möglichkeit, die Verantwortung abzuschieben, wenn man schlechte Karten bekommen hat. Der Partner muss dann entscheiden, welche Farbe oder welche Variante Trumpf werden soll. Im Alltag, in der Wirtschaft, in der Politik und bei Auseinandersetzungen ist es zwar gang und gäbe, dass man versucht, aus der Verantwortung zu flüchten und die Verantwortung abzuschieben, wenn es schwierig wird. Beim Schieber darf man die Verantwortung aber ohne schlechtes Gewissen abschieben. Abschieben gehört zum Schieber.

Die Frage ist bloss, wann soll man schieben und wann ist es besser, selber Trumpf zu machen. Soll man zum Beispiel schieben, wenn man einen Dreifärber und nur schwache Trumpfkarten hat? Ja, in einem solchen Fall sollte man tatsächlich schieben, denn der Partner hat vielleicht verschiedene gute Möglichkeiten, einen Trumpf zu bestimmen. Wenn man aus Angst nicht schiebt, verpasst man in den meisten Fällen sehr oft auch eine gute Chance. Oder soll man schieben, wenn man nur drei Stiche auf sicher hat? Ja, man sollte schieben, denn es kann ja nur noch besser kommen. Aber wenn man schliesslich geschoben und der Partner einen Trumpf bestimmt hat, dann heisst die schwierige Frage: Welche Karte soll ich nun als erste ausspielen?

Beim Schieber kann es auch immer wieder passieren, dass man einen super Trumpf in den Händen hält und brennend darauf hofft, dass der Partner schiebt. Aber man darf ja keine Zeichen geben und kein Wörtchen sagen. Ohne dass man irgendetwas dagegen unternehmen kann, macht aber der Partner mit schlechten Karten selber Trumpf. Aber ausgerechnet dann, wenn man schlechte Karten hat und wirklich froh wäre, wenn nicht geschoben würde, schiebt der Partner. Manchmal läuft es beim Schieber eben total verkehrt. In solchen Situationen kann man sich selbst nur sagen: Es kommt halt nicht immer so, wie man es gerne hätte, dafür ist der Schieber aber spannend und vielfältig – wie das Leben.

ROBERT SCHNEITER


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