Brauchtum in Bolivien und Tres Soles – Advent

  04.12.2020 Leserbeitrag

Bolivien ist ein Land voller Bräuche, die nach überlieferten Ritualen – entstanden aus einer Mischung von einheimischen und christlich-katholischen Traditionen – gefeiert werden: Karneval, Ostern, Johannisnacht, Allerheiligen, Weihnachten, Neujahr und viele mehr.
In den nächsten Bolivienspalten werde ich einige dieser Bräuche vorstellen und aufzeigen, wie erzieherisch die Pflege solcher Traditionen wirken kann, wenn man kreativ ist. Beginnen möchte ich passend zur Jahreszeit mit dem Advent. In Bolivien sind ausser in den Kirchen Adventskränze nicht üblich. Adventskalender sind ebenso unbekannt und auch sonst wird dieser Zeit keine besondere Bedeutung zugemessen.

Eines Tages brachte jedoch eine Schweizer Freiwillige mit Namen Annelies aus guter alter Tradition einen Schokoladen-Adventskalender von zu Hause mit, auf dem ein prachtvolles, tiefverschneites Schloss unter einem strahlenden Winterhimmel zu sehen war. Hinter jedem Kalendertürchen verbarg sich eine köstliche Praline. Begeistert machte man sich daran, eine Liste zu erstellen, die genau festlegte, welches Kind an welchem Tag ein Türchen öffnen durfte, und der Adventskalender wurde feierlich an einer Wand im Esszimmer aufgehängt. Als am nächsten Morgen Braulio – damals noch ein Kind, heute einer unserer zuverlässigsten Betreuer – das Türchen öffnete, war das Fach dahinter leer.

«Was zum…!», brauste er auf, öffnete das zweite Kalendertürchen und stellte überrascht fest, dass dieses Fach ebenfalls leer war, und das nächste, und das übernächste … «Verdammt!», liess er sich nicht gerade adventlich vernehmen. «Fluch doch nicht so scheusslich, immerhin ist Advent!»

«Also, du hast doch gesagt, dass hinter jedem Türchen eine Praline steckt», wandte sich Braulio empört an Annelies. «Ich schwöre euch, dass da Pralinen drin waren!», stammelte sie. Bei näherer Untersuchung stellten wir fest, dass sich jemand in der Nacht am Kalender zu schaffen gemacht, die Pralinen herausgenommen und die Türchen sorgfältig zugeklebt haben musste, denn die Spuren des Klebers waren noch zu sehen. Wir fanden nie heraus, wer der Täter damals gewesen war – auch wenn der eine zum anderen sagte: «Sag mal, war an dem Morgen dein Mund nicht mit Schokolade verschmiert?», oder: «Warum hast du an dem Tag denn nichts zum Frühstück gegessen? War dir etwa schlecht?»

Immerhin brachte uns die Geschichte auf die Idee, einen eigenen Adventskalender zu basteln und ihn erzieherisch zu nutzen. Wir bauten ein Adventshäuschen aus Holz mit 24 Türchen – und noch einige zusätzliche für den Fall, dass es bei uns einmal mehr Jungen und Mädchen geben sollte – und legten kleine Geschenke mit einer Botschaft hinein. Allerdings liessen wir uns etwas einfallen, damit der Kalender nicht wieder geplündert und die Geschenke schon vorzeitig ausspioniert wurden. Eine unserer Taktiken war, das Geschenk immer erst am frühen Morgen hinter dem entsprechenden Kalendertürchen zu verstecken. Die andere Taktik bestand darin, dass wir hinter den übrigen Türchen Steinchen, Pfirsichkerne oder alte Batterien in Geschenkpapier gewickelt versteckten. Wenn jemand dann unberechtigterweise ein Türchen öffnete, fand er diese nutzlosen Gegenstände mit dem Hinweis: «Du bist heute noch nicht dran, du Schlaumeier!», oder: «Lern die Spielregeln einzuhalten, du Gauner!»

Die Geschenke für den Adventskalender kaufen wir immer anlässlich des Alasitas. Der Alasitas ist ein riesiger Volksmarkt, der in La Paz im Januar und in Cochabamba im November stattfindet. Das Besondere daran ist, dass auf diesem Markt nur Miniaturen von einigen Zentimetern Grösse, alle von Hand gemacht, verkauft werden. Das Wort kommt übrigens aus der Sprache der Aymara und bedeutet «kaufe mir». Die Handwerker, die vom Alasitas leben – und das sind Hunderte –, haben ein unglaubliches Geschick, Alltagsgegenstände jeder Art aus Holz, Gips, Blech und Karton anzufertigen. Auf diesem Markt finden wir für unseren Adventskalender für jeden einen passenden Gegenstand, der in etwa seinem Charakter oder seinen Vorlieben entspricht. So befindet sich hinter jedem Türchen eine Miniatur zusammen mit einem kleinen Zettel, auf dem eine persönliche Botschaft steht. Harold, der einmal Musiker werden will, aber für die Schule die nötige Disziplin vermissen lässt, bekommt eine Miniaturgitarre. Auf dem Zettel ist zu lesen: «Um ein guter Musiker zu werden, braucht es vor allem Disziplin.» Manuel, der schon 16 Jahre alt ist und noch nicht weiss, für welchen Beruf er sich entscheiden soll, erhält einen Miniaturziegel mit der Botschaft: «Es ist langsam Zeit, ein Lebensziel aufzubauen.» Die Türchen werden jeweils nach dem Frühstück geöffnet und die Kinder und Jugendlichen zeigen allen, was sie geschenkt bekommen haben, und lesen ihre Botschaft laut vor. Das Geschenk von Fernando ist eine kleine Zitrone aus Gips, so perfekt gemacht, dass sie zum Täuschen echt aussieht. Fernando reisst die Augen auf und liest etwas unsicher die Botschaft: «Da die Zitrone, aus der man die Limonade macht, sauer ist, muss man sie süssen, damit sie geniessbar ist.» Fernando, der bekanntlich oft schlecht gelaunt und unfreundlich zu seinen Mitbewohnern ist, runzelt die Stirn. «Was soll das heissen? Dass ich sauertöpfisch bin?», faucht er. «Keine von diesen Botschaften ist persönlich gemeint. Das haben wir doch schon viele Male erklärt», antwortet Lucio, unser Psychologe. «Die Botschaft ist an alle gerichtet. Wer kann mir sagen, was sie bedeutet?»

«Dass wir uns das Leben versüssen sollen!», schnellt Mery hoch und kichert dabei. «Und wie?» «Zum Beispiel, wenn wir nett zu den anderen sind, dann werden wir auch freundlich behandelt …»

Wie Lucio, unser Psychologe, Fernando ganz richtig geantwortet hat, versuchen wir, damit sich niemand betroffen fühlt, die Botschaften immer so allgemein und positiv wie möglich zu gestalten, aber manchmal zielen sie eben doch auch auf die Charaktereigenschaften des Beschenkten ab – und manchmal sind es eben negative Eigenschaften.

«Richtig, mit einem freundlichen Wort oder einer freundlichen Geste können wir unser Leben und auch das der anderen versüssen, verstehst du, Fernando?»

«Ja, schon, aber trotzdem, ich bin kein Sauertopf!» Alle stöhnen und verdrehen die Augen. Immerhin gab sich Fernando danach eine Zeit lang Mühe, etwas freundlicher zu sein.

STEFAN GURTNER

Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-
Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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