Gleitschirmflug nur für Hartgesottene

  24.12.2020 Saanenland

Als waschechte Unterländerin werde ich immer wieder davon überrascht, was das Saanenland alles zu bieten hat – und verpasse keine Gelegenheit, auf Entdeckungsreise zu gehen. Mein erstes Abenteuer führte mich in luftige Höhen.

NADINE HAGER
Immer wieder konnte ich im Sommer durch mein Wohnzimmerfenster die Landung verschiedenster Gleitschirmflieger an der Wispile beobachten. Und jedes Mal, wenn ich draussen war und ein solcher über mich hinwegschwebte, geriet ich ins Träumen von hohen Lüften, schöner Aussicht und grenzenloser Freiheit. Deshalb fällte ich aus dem Bauch heraus einen Entscheid: Ich musste es selbst ausprobieren!

Nachdem sich dieser Gedanke einmal eingeschlichen hatte, fackelte ich nicht lange, sogleich einen Termin zu vereinbaren. Nur wenige Tage später setzte ich mich nach Feierabend ins Auto und fuhr nach Rougemont, um von der Videmanette aus zu starten.

Ich war etwas nervös – allerdings mehr aus Angst, den Treffpunkt zu verfehlen, als vor dem tatsächlichen Fliegen. Gerade noch rechtzeitig erreichte ich den Parkplatz beim Château de Rougemont und wurde sogleich in einen kleinen Bus gelotst, der bereits mit Piloten und Kunden gefüllt war. Nach einer steilen, kurvigen Fahrt kam der kleine Bus zum Stehen und wir stiegen aus. Während ich die frische Luft genoss und die Businsassen musterte, rissen die Gleitschirmpiloten Gras aus und warfen es in die Luft – hochprofessionell, wie sie mir versicherten, denn so würde man die Windrichtung feststellen. Ich amüsierte mich. Dann hiess es: Auf gehts! Der Truppe setzte sich in Bewegung und spazierte zum Startplatz nebenan. Während dem Gehen registrierte ich noch, wie einer der Mitarbeitenden wieder in den kleinen Bus stieg und damit ins Tal kurvte – jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte ich.

Wir erreichten eine grosse, relativ steil abfallende Wiese. Die Aussicht war atemberaubend: Milchig schien die Sonne zwischen den Wolken hindurch und warf ihr Licht auf unzählige Berge und Bäume, Rougemont lag uns zu Füssen. Jetzt begannen die Piloten, den Inhalt ihrer grossen Rucksäcke auf dem Gras auszubreiten. Langsam spürte ich ein nervöses Kitzeln in mir aufsteigen – und plötzlich fragte ich mich, was ich eigentlich hier zu suchen hatte und weshalb ich jetzt nicht gemütlich auf meinem Sofa irgendeinen Comic las. Kurzerhand suchte ich mir als Erste einen Piloten aus, enterte ihn so quasi. Denn wenn ich mich schon an ein paar Fäden und einem Sack von einem Berg stürzte, wollte ich wenigstens jemanden in meinem Rücken haben, den ich auserwählt hatte! Der Pilot lächelte mir zu. Während er mich an seinem Gleitschirm festmachte, beobachtete ich aufmerksam, wie die anderen starteten: Aufs Kommando warten, kraftvoll drei Schritte rennen, ins Leere springen. Das sah machbar aus.

Dann waren mein Pilot und ich an der Reihe. Anders als alle anderen lieferten wir zuerst zwei Fehlversuche, weil wir von plötzlichen Windböen überrascht wurden, die uns rückwärts rissen. Ich zweifelte bereits, ob ich wirklich die Richtige für eine Aktion wie diese war, bis es endlich klappte: Als ich zum dritten Mal mit aller Kraft vorwärtspreschte und mich gegen den Widerstand des aufwallenden Gleitschirms im Wind stemmte, verlor ich den Boden unter den Füssen – und flog. «Setz dich gemütlich hin!», empfahl mir mein Pilot sogleich mit ruhiger Stimme und gut gelaunt. Das tat ich. Ich lehnte mich zurück und blickte auf das fantastische Panorama. Für ein paar Atemzüge verlor ich mich in den Bergen, den kleinen Häuschen und dem Tannenwald unter uns.

Doch dann bemerkte ich es: ein omnipräsentes Ruckeln und Ziehen. Ja, ich sass gemütlich – und doch kippte ich in meinem Sitz permanent leicht hin und her, insbesondere wenn mein Pilot mit dem einseitigen Ziehen an den Fäden des Gleitschirms eine Kurve einleitete. Und das war nicht die einzige Bewegung des Gleitschirms. Windböen kamen und gingen, unsere Geschwindigkeit veränderte sich dauernd. Einmal kamen wir mit hohem Tempo, dann wurden wir wieder ganz plötzlich abgebremst. Auch nach oben und unten war der Flug nicht stabil – immer wieder sackten wir einfach ab oder stiegen ohne Vorwarnung auf. Und damit ist die Zeit reif für ein Geständnis meinerseits: Was Übelkeit angeht, bin ich ein Weichei. Und wenn es etwas gibt, das mir diese bereitet, dann ist es genau das: Richtungs- und Geschwindigkeitsänderungen ohne Vorwarnung mit einer Prise zusätzlicher Instabilität.

Zuerst ignorierte ich meine stetig schlimmer werdende Übelkeit mit allen Mitteln und sagte auch meinem Piloten nichts davon. «Nadine, du bist jetzt hier und geniesst, was du hast – reiss dich zusammen!», schalt ich mich. Doch der Appell brachte herzlich wenig. Ja, ich genoss das Panorama – doch bereits nach fünf Minuten musste ich meinen Piloten darüber informieren, dass ich zu gegebener Zeit eine Notlandung würde einfordern müssen. Ja, zu gegebener Zeit – zuerst wollte ich so lange wie möglich meinen Spass haben. Der Pilot redete verständnisvoll auf mich ein und versuchte, mich abzulenken. Dafür drückte er mir sogar die Fäden des Gleitschirms in die Hand, damit ich dessen Steuerung selbst übernehmen konnte. Und jedes Mal, wenn er den Selfiestick mit der GoPro darauf hervorzog, um unseren Flug für mich festzuhalten, riss ich mich zusammen und lachte in die Kamera, als hätte ich die beste Zeit meines Lebens – war so ein Reflex.

Ich würde sagen, ich hielt etwa eine Viertelstunde durch. Doch dann konnte ich nicht mehr. Ich verlangte eine schnellstmögliche Landung, denn der Druck auf Magen und Kehle war so hoch geworden, dass ich nicht mehr antworten konnte, wenn mein Pilot mit mir sprach. Ich brauchte jetzt volle Konzentration, um das Schlimmste zu verhindern. Als mich der Pilot schliesslich instruierte, dass ich bei Bodenkontakt ein paar Schritte rennen müsste, konnte ich für nichts garantieren – vor lauter Zusammenkrampfen hatte ich das Gefühl nicht nur in den Händen, sondern auf unerklärliche Weise auch in den Füssen verloren. Kann man rennen, ohne seine Füsse zu spüren? Ich wusste es nicht, doch ich wollte einfach runter.

Irgendwie gelang die Landung. Ich stolperte ein paar Schritte weit und liess mich dann sofort auf den Rücken ins Gras fallen, um ruhig zu atmen – der Brechreiz war unausstehlich. Auch jetzt sprach der Pilot mit mir, doch den Mund zu öffnen fühlte sich nach einer Katastrophe an. Den Helm musste er mir ausziehen, denn meine Finger waren zu taub für diese Feinmotorik. Und da lag ich auf dem Rücken, lag dort leichenblass, wie man mir sagte, und bekam halbwegs mit, wie einer nach dem anderen voller Begeisterung und mit strahlenden Augen landete. Etwas in mir fluchte über die Ironie – doch da hatte ich mich selbst hineingeritten. Viel Zeit für Entspannung blieb mir nicht. Die Piloten packten zusammen und mussten zu ihrem nächsten Flug ... ich schleppte mich zu meinem Auto, bezahlte – und war augenblicklich allein. Zurückgelassen mit einer vor mir liegenden Autofahrt und einem so sturmen Gefühl, dass ich mich am liebsten an Ort und Stelle auf den Boden gelegt hätte. Doch das ging nicht: In etwa zwei Stunden hatte ich einen Abendeinsatz für den «Anzeiger von Saanen». Die Nachtarbeiten der MOB riefen (siehe Ausgabe vom 28. August).

Ich weiss nicht, wie ich es nach Hause schaffte. Erst am nächsten Vormittag sollte ich so weit sein, dass ich meinen Zustand wieder guten Gewissens als «normal» bezeichnete. Trotzdem stehe ich vollkommen hinter dieser Aktion. Ich meine, ja, das war anders als erwartet. Aber es war eine Erfahrung! Dafür bin ich schliesslich hier. Und wenn ich jetzt einen Gleitschirmflieger beobachte, lächle ich grimmig in mich hinein, denn: Die Illusion vom seelig ruhig vor sich hinschwebenden Aussichtsgeniessenden habe ich restlos entlarvt.


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