Das Dilemma, das leider keines ist

  30.04.2021 Leserbeitrag

Die letzte Hexe Europas wurde im Kanton Glarus hingerichtet. Wobei das mit der Hexe irreführend ist: Anna Göldi (besagte «Hexe») wurde mittlerweile offiziell rehabilitiert. Der Glarner Landrat hat entschieden, dass es ein Justizmord war – und Anna Göldi keine Hexe, sondern eine Magd, die zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Die Rehabilitation hatte eine ganz fassbare Folge für den Kanton Glarus (denn Göldi selbst nützt diese wohl nicht mehr viel). In Ennenda wurde ein Anna-Göldi-Museum eingerichtet. Dieses Museum hat sich der Ungerechtigkeit im eigentlichen Wortsinn verschrieben. Sei es gegen Einzelne, wie Anna Göldi eine war, oder gegen ganze Volksgruppen wie zum Beispiel die Tibeter.

Auch zu Tibet hat das Glarnerland eine spezielle Beziehung: Vor 51 Jahren kam eine Gruppe von etwa 50 Personen ins Glarnerland. Es waren Flüchtlinge, die vor der chinesischen Unterdrückung geflohen waren. In Windeseile integrierten sich die Tibeter im Glarnerland und sind heute ein selbstverständlicher Teil des Tals. Besonders erfolgreich war die Integration darum, weil sie nicht einfach bedeutet, dass die Tibeter in der Glarner Kultur untergegangen sind. Nein, sie prägen die Kultur auch mit. So werden in Glarus heute wohl gleich viele Momos wie «Zigerhöräli» gegessen und wenn Glarus an einem Anlass als Gastkanton mitmacht (wie zum Beispiel vor wenigen Jahren beim Sechseläuten), überrascht es keinen Glarner, dass dabei auch Leute in tibetischen Trachten mitlaufen.

Item: Zu eben diesen Tibetern gibt es eine Ausstellung im Anna-Göldi-Museum. Und das Krasse daran ist, dass sich die Situation der Tibeter in Tibet in den letzten 50 Jahren gegenläufig zur Situation der Tibeter in Glarus entwickelt hat: Immer noch werden sie unterdrückt, immer noch gibt es Selbstverbrennungen und immer noch versucht China, die tibetische Sprache und Kultur auszurotten.

Das war vielen Glarnern nicht bewusst. Auch mir nicht. Es stellt sich die Frage, warum es den Tibetern in Tibet immer noch so schlecht geht. Weil keiner etwas gegen das Unrecht tut, natürlich. Ich habe darüber ein langes Gespräch mit einem Glarner/ Tibeter Kollegen geführt. Wir haben über die Möglichkeiten diskutiert, wie man als Land oder als Einzelner die Situation verbessern könnte. Und das Ergebnis war einigermassen ernüchternd. Unsere Referenz war Kuba: Um die Kubaner vom Sozialismus abzubringen, hat die ganze westliche Welt seit der Machtübernahme Fidel Castros harte Sanktionen gegen das Land verhängt. Und erst kürzlich war in den Zeitungen zu lesen, dass Fidels Bruder die Machtübergabe an den ersten Nicht-Castro-Führer des Landes übergibt. Geändert hat sich, ausser einer Verschlechterung der Lebensumstände der Bevölkerung, also nichts.

Wir haben darüber diskutiert, weil genau diese harten Sanktionen ja die Forderung sind, mit der Chinas Macht gebrochen werden soll. Menschenrechte sollen erzwungen werden, und zwar über wirtschaftliche Sanktionen. Ich glaube nicht, dass in China funktionieren würde, was in Kuba und anderswo so grandios gescheitert ist.

Um das Regime in China zu treffen, muss man das Regime direkt angreifen. Und nicht über den Umweg der Wirtschaft. Angreifbar ist das Regime eigentlich nur militärisch. Das heisst: Wollte man das Los der Tibeter in Tibet verbessern, müsste man dafür einen Krieg riskieren, der wohl noch viel mehr Leid verursachen würde (ganz abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen).

Oder kurz: Die Ausweglosigkeit ist auch in diesem Konflikt frustrierend. Wie bei Anna Göldi kann man realistischerweise erst lange nach dem Tod der Betroffenen eine Besserung der Situation erwarten. Und für einmal hoffe ich, dass ich mit dieser Einschätzung genauso unrecht habe wie seinerzeit die Richter, welche Anna Göldi zum Tod verurteilten.

SEBASTIAN DÜRST
[email protected]


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