Die Passion am Karfreitag und Osterbräuche in Bolivien

  01.04.2021 Leserbeitrag

Der Jahreszeit angemessen möchte ich gerne in dieser und der darauffolgenden Bolivienspalte unsere Osterbräuche vorstellen. Beginnen wir mit Karfreitagspassion. Einem Wallfahrtsort gleich kommt zu Ostern in Bolivien am Karfreitag der «Kalvarienberg», der Berg, auf dem bekanntermassen die Leidensgeschichte Jesu mit seinem Tod endet. Es gibt kaum einen Ort oder eine Stadt, in deren Strassen man nicht 15 kleine Altäre mit einem Kreuz errichtete, um in einer Prozession an den Leidensweg Jesu zu erinnern. Die Gläubigen legen unter jedes Kreuz, an dem sie vorbeigehen, einen kleinen Stein. Dieser Brauch hat seinen Ursprung in der Inkazeit, als auf den Passhöhen Steine aufgehäuft wurden, um die Berggeister für den oft gefährlichen Weg günstig zu stimmen und ihren Schutz zu erbitten. Wenn es keine Darsteller für den Kreuzweg gibt, zieht die Gemeinde einfach singend und betend von Altar zu Altar, von Station zu Station. Die ausdrucksstärkste Form eines Kreuzwegs ist jedoch die Aufführung der Kreuzigungsgeschichte als Strassentheater.

An dem Passionsspiel, das jährlich in Quillacollo stattfindet, sind nicht nur die Schauspieler unserer Theatergruppe Ojo Morado beteiligt, sondern auch Laienschauspieler der örtlichen Kirchengemeinde. Da wir eine teilweise nicht unerfahrene Theatergruppe sind, haben Inszenierung und schauspielerische Qualität ein recht hohes Niveau, was die Aufführung jedes Jahr zu einem besonderen Ereignis werden lässt. Auch das Verhalten und die Einstellung der Schauspieler und Schauspielerinnen haben sich – was die Proben angeht – zwischenzeitlich sehr gewandelt. Es mutet doch recht seltsam an, wenn die weinende Maria – selbst wenn es nur eine Probe ist – plötzlich ein klingelndes Handy unter ihrem Gewand hervorzieht und flüstert: «Liebling, warte noch etwas! Ich bin in einer halben Stunde fertig.»

«Zu Zeiten Jesu gab es keine Handys, Herrgott im Himmel!», protestiere ich lautstark. Alle Handys müssen fortan im Umkleideraum zurückbleiben.

Nach jeder Station beziehungsweise Szene, die gespielt wird, spricht der Pfarrer ein Gebet. Während die ganze Gemeinde zur nächsten Station weiterzieht, werden Lieder gesungen. Der junge Mann, der seit mehreren Jahren Jesus spielt, ist besonders engagiert und heisst José. Er legt sich bei den Proben und bei den Aufführungen dermassen stark ins Zeug, dass man ständig aufpassen muss, dass er sich nicht verletzt. Die Stürze müssen genau geübt werden, damit das schwere Kreuz nicht auf ihn fällt. «Du musst das Kreuz von dir stossen und dich im Fallen abdrehen», sage ich, mindestens schon zum zehnten Mal. «Jesus stiess das Kreuz auch nicht weg, als er stürzte», erwidert José trotzig. «Du bist aber nicht Jesus und sollst auch nicht sterben. Und ich will auch keine Ambulanz rufen müssen, nur weil du dich beim Sturz verletzt, verstehst du mich?»

Aber José stösst das Kreuz auch weiterhin nicht von sich und dreht sich auch nicht beim Fallen ab. Bei der Aufführung stürzt er so spektakulär, dass die Menge aufschreit. Es ist ein Wunder, dass er sich nicht sämtliche Knochen bricht. Aber im Grunde ist es das, was der Menge gefällt, dass so wirklichkeitsgetreu wie möglich gespielt wird. Sie wollen gutes Schauspiel sehen. Die Menschen hier identifizieren sich mit dem leidenden Christus. Gewalt und Leid begegnet ihnen in Südamerika fast täglich. Deswegen sind sie dankbar, dass Jesus für sie Gewalt und Leiden auf sich nimmt, ein viel stärkeres Leid, als sie selbst erleiden. «Fester schlagen! Ihr kitzelt mich ja nur!», schreit denn auch José bei den Proben, als er mit Peitschen traktiert wird. Die römischen Soldaten, die zuschlagen, sind Jugendliche unserer Theatergruppe Ojo Morado und durchaus nicht zimperlich, wenn es ums Zuschlagen geht. «Was seid ihr eigentlich? Schwächlinge? Heulsusen? Waschlappen?»

Das wollen sich die römischen Soldaten nun nicht sagen lassen und beginnen, heftiger auf ihn einzuschlagen. «Jesus hat man schliesslich auch nicht gekitzelt», brummt José am Schluss der Probe und reibt sich den Rücken. Umso mehr ärgert es ihn, als ihm bei der Aufführung – während eines besonders heimtückischen Schlags – die Perücke samt Dornenkrone vom Kopf fliegt.

Ein anderes Streitthema ist die Höhe des Kreuzes. Die Kreuzigungsszene muss besonders sorgfältig geprobt werden. Es müssen tiefe Löcher in die Erde gegraben und Seile angebracht werden. Das Kreuz muss dann mit den Steinen, die um den Balken herum in die Vertiefung gestopft werden, stabilisiert werden. Immerhin wollen wir nicht, dass das Kreuz mitsamt dem Gekreuzigten umfällt. «Das ist doch kein richtiges Kreuz! Mein Kreuz muss doch höher als die Kreuze der Räuber sein!», schimpft José wie ein Rohrspatz, als er das Kreuz sieht, das uns Edwin gezimmert hat. Edwin ist übrigens Josés Vater und bastelt oder fertigt alle Requisiten und Utensilien an, die für die Inszenierungen benötigt werden. Aufgrund seines weissen, wallenden Bartes ist es schon Tradition geworden, dass er beim Kreuzweg den Oberpriester spielt.

«Aber José, je höher das Kreuz, desto grösser die Gefahr, dass es umfällt», entgegne ich, schon daran gewöhnt, dass José alles zu wenig schmerzvoll und zu wenig gefährlich ist. «Jesus ist doch auch …» «Nein, José, mit dem kannst du mir nicht kommen: Jesus ist eindeutig nicht mit dem Kreuz umgefallen!», unterbreche ich ihn entschieden. José starrt mich einen Moment lang verblüfft an, dann beginnt er zu lachen und ergibt sich: «Stimmt, Jesus ist nicht mit dem Kreuz umgefallen, du hast recht!»

José jedenfalls sieht Jesus zum Verwechseln ähnlich, als er mit roter Tinte überströmt im Licht der rauchenden Fackeln am Kreuz hängt. Einige der Zuschauer beginnen sogar zu weinen, besonders die älteren Frauen, während ihn der Hohepriester in Gestalt von Edwin mit seinem weissen wallenden Bart mit Donnerstimme verspottet: «Rette dich selbst und steige herab vom Kreuz!»

Der Kreuzweg mit seiner letzten Station endet dieses Mal in einem Vorort nahe unserer Wohngemeinschaft. Jedes Jahr führt der Kreuzweg von der Pfarrkirche aus in eine andere Richtung, in einen anderen Vorort. Diese Vorgehensweise bei der Karfreitagspassion, die in den Volksbräuchen ihren Ursprung hat, ist für uns als Theatergruppe besonders interessant, da wir uns in den letzten Jahren immer mehr vom klassischen Bühnentheater abgewandt und begonnen haben, mit anderen Theaterformen, vor allem mit Freilichtspiel, zu experimentieren.

José zeigt uns am nächsten Tag stolz seine blauen Flecken, Striemen und Abschürfungen. «Mensch, José, du bist aber hart im Nehmen!», ruft jemand. «Jesus ist es erheblich schlimmer gegangen», stellt er bescheiden fest.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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