Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …

  27.04.2021 Serie

Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Diese «Auswanderer» will «Im Saanenland aufgewachsen und jetzt …» vorstellen.

Vorwort: Lange habe ich es hinausgeschoben, diesen Text zu schreiben, denn wie konnte ich diesem Menschen gerecht werden, dieses Leben angemessen beschreiben ohne unzulässige Vereinfachungen und grobe Auslassungen? Die Lektüre des Buchs von Eugen Brand («La dignité comme boussole» – Editions Quart Monde) machte mir Mut: Die Erkenntnis, dass nur wer wagt, einen Weg findet, las ich in der einen oder anderen Form mehrmals und auch, dass eine angemessene Fehlertoleranz und -kultur wichtig ist. In diesem Sinne bitte ich die Leserschaft, diesen Text als das zu nehmen, was er ist: einen Versuch.

Wir beginnen das Gespräch mit dem Heraufholen von Bildern aus dem Saanenland, aus dem Scheidbach – einem zentralen, einem wichtigen Ort für Eugen Brand. Er und sein Vater beim Zäuneflicken. Wie er in seinen Vater hineinstolpert, weil dieser unvermittelt anhält, um ein Gespräch zu beginnen, sich dabei immer genügend Zeit nimmt, um etwas zu erfahren, zu lernen. Das Bild der Mutter mit geschlossenen Augen auf dem Schulweg innehaltend, um sich als Lehrerin geistig auf das Kommende in der Schulstube vorzubereiten, versuchend, die Welten der Schule und des Bergbauernhofs zu verbinden. Die sich fragte, wie begegne ich den anderen und dem Anderen? Sehe ich die Situation so, wie ich sie mir vorstelle oder lasse ich sie auf mich zukommen und wirken?

Der Scheidbach hat Eugen Brand geprägt: Dorthin kam der Grossvater, der Vater der Mutter, nie. Er verweigerte seine Zustimmung zur Ehe von Huldi und Ernst, der Lehrerin mit dem Bergbauern, die er als sozialen Rückschritt ansah. Er, der wollte, dass seine Kinder ein besseres Leben führen konnten als er. Erst als sein Schwiegersohn ihm beim Bau der Scheune half, erst diese Zusammenarbeit ermöglichte ein Umdenken. Das Zusammenhalten, das gemeinsame Bewältigen von Aufgaben erlebte Eugen auch mit den Nachbarn im Scheidbach: der Trost durch die Nachbarinnen nach dem Tod der Mutter. Die Solidarität in Notsituationen, wie zum Beispiel nach der Zerstörung einer Brücke, bildete ein geistiges Fundament, von dem Eugen Brand ein Leben lang zehren konnte.

Gemeinsam für die Würde aller
Die Talgemeinschaft war lebendig. Im Chörli wurde gesungen, Theaterstücke wurden aufgeführt und Albert von Grünigen zeigte einmal im Jahr einen Film, den die Mutter ihrem Sohn Eugen und seinen Geschwistern Annemarie und Veronika danach ausführlich erzählte. Es gab auch Schweres und Schwieriges wie zwei Selbsttötungen, die Eugen lange beschäftigten, bis ins Erwachsenenalter. Im Turbachtal waren reiche Bauernfamilien selten, es gab dafür Armut, und Eugen nahm diese dort zum ersten Mal wahr, lange bevor sie durch seine Arbeit zum zentralen Thema wird und er sich ein ganzes Leben für ATD Vierte Welt einsetzt (All Together for Dignity – Gemeinsam für die Würde aller). ATD ist eine Nichtregierungsorganisation ohne religiöse oder politische Zugehörigkeit. Ihr Ziel ist die Überwindung der Armut zusammen mit Menschen und Familien, die diese von Generation zu Generation erleben. Seit 1967 in der Schweiz tätig, bringt die Bewegung Menschen mit unterschiedlichem sozialem und kulturellem Hintergrund zusammen, um gemeinsam über Armut und soziale Ausgrenzung nachzudenken, zu lernen und zu handeln, sodass jeder Mensch in seiner Würde, seinen Rechten und seinen Verantwortungen geachtet und unterstützt wird, und damit seine Fähigkeiten unter Achtung der Unterschiedlichkeiten in der Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens und einer fairen Wirtschaft unter Achtung der Umwelt mit allen andern teilen kann.

Armut – ein Tabu
Eugen Brand kehrt immer wieder zu seinen Wurzeln ins Turbachtal zurück. Auf einer Wanderung dort traf er einen Bekannten, der zu seinem Einsatz für ATD Auskunft wünschte und nach dem Erhalt der Informationen sagte: «Das kenne ich. Ich sehe, dass es Armut gibt. Was du machst, ist sehr wichtig, denn Armut ist etwas, über das man nicht zu reden wagt.» 2012 steigt Eugen Brand aus der Gesamtverantwortung für ATD aus und lebt eineinhalb Jahre wieder im Scheidbach. In dieser Zeit hält er einen Vortrag über sein Lebenswerk im Turbacher Schulhaus – ein wichtiger Moment in seinem Leben, wie er sagt. An einige Sätze, die damals gesagt wurden, kann er sich gut erinnern: «Warum reden wir nicht mehr über Armut und wie unsere Vorfahren dagegen ankämpfen mussten?» «Eugen, wenn ich dir zuhöre, wie machen es Leute auf der Welt, die wie wir schwer arbeiten müssen, aber die dazu noch Hunger leiden?»

Gemeinsam statt einsam
Das sind zentrale Fragen, auf die Eugen Brand ein Leben lang Antworten zu finden hofft. Wer meine, er komme alleine zurecht, wenn er nur wolle, der täusche sich, sagt er. «Wir sind immer auf unsere Mitmenschen angewiesen. Niemand befreit sich alleine.» Dieses zusammen Tragen ist der Keim der Lösung – also keine Hilfe für, sondern Zusammenarbeit mit den Menschen, die unter Armut leiden, unter Nutzung ihrer Gaben und Talente. Dazu brauche es ein Hin- und kein Wegschauen bei schlimmen und schlimmsten Lebenssituationen und die Weigerung, diese tatenlos hinzunehmen, denn die Würde der Menschen sei unantastbar, sagt Eugen Brand: «Armut tötet mehr Menschen als Kriege. Das sage nicht ich, das sagt die Weltgesundheitsorganisation in Genf.»

Der Mensch lebt nicht nur vom Brot allein
ATD definiert Armut folgendermassen: «Die Gesellschaft schafft in vielen Bereichen Mängel – zum Beispiel in der Gesundheit, der Bildung, der Kultur oder beim Zugang zu elektronischen Informations- und Kommunikationstechniken.» Dies führt dazu, dass Menschen ausgeschlossen werden, ihre Rechte verlieren, die Selbstverantwortung und die Kraft, das eigene Leben zu gestalten und dies oft über Generationen. Eugen Brand zitiert dazu eine Frau, die fünfzehn Jahre auf der Strasse gelebt hat: «Die Leute gaben mir eine Decke, manchmal etwas zu essen oder zu trinken, aber nie, was ich am meisten erhoffte – ein Buch.» Er stellt die Frage, wer über die Bedürfnisse der Betroffenen entscheide – sie selbst oder eine Behörde, der Staat? Kraftvolle Lösungen seien nur in der Zusammenarbeit und dem Wissensaustausch zwischen den Armen und allen andern möglich, ist er überzeugt. «Wir müssen die Wissensquellen vereinen. Die Erkenntnisse der Universitäten, der Bildungsinstitutionen, der Berufsleute mit den Erfahrungen der Armen verbinden.»

«Die Schwarzen Brüder»
Die Schweiz habe Erfahrungen mit grosser Armut, sagt Eugen Brand. «Es ist noch nicht so lange her, dass ein armer Tessiner Bergbauer seinen Sohn Giorgio verkauft. Der Junge wird nach Mailand gebracht, wo er als Kaminfeger in Schornsteine klettern muss. Doch Giorgio ist nicht allein. Er gründet einen Bund, den er ‹Die Schwarzen Brüder› nennt. Sie wehren sich erfolgreich gegen ihr Elend. Wir kennen auch das Schicksal der Verdingkinder.» Schon in der Schule wäre es wichtig, dass alle Kinder auch die Realität und den Einsatz, Armut zu überwinden in der Schweiz im Verlaufe der Geschichte kennenlernen. Hier können sie wertvolle Erkenntnisse und auch Mut schöpfen auf dem Weg zu ihren zukünftigen Verantwortungen als Bürgerinnen und Bürger in unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat.

Was Eugen Brand von seiner Mutter gelernt hat
Resignation kennt Eugen Brand nicht. Seine Rezepte dagegen heissen, sich gegenseitig kennen- und anerkennen lernen, Zusammenarbeit, Dialog und Wissensaustausch. Dazu ein Bild aus dem Turbachschulhaus: Der Schulinspektor ist auf Besuch – Eugens Mutter setzt die Beteiligten in einen grossen Kreis. Inspektor Schafroth inmitten der Kinder. Die Lehrerin Huldi äusserst aufmerksam, damit sich alle mit allen austauschen können. Das hat der Sohn hervorragend abgeschaut. In von ATD organisierten Volkshochschulen Vierte Welt würden die Menschen lernen, sich auszudrücken und sich mitzuteilen. Gemeinsam werde analysiert, gemeinsam nach Umsetzungsvorschlägen gesucht, gemeinsam protokolliert und so Steuerungswissen für Staaten und Gesellschaften generiert. Das geschehe in der Schweiz in fünfzehn Gruppen und zum Beispiel in Bern, Freiburg, Basel, Winterthur, Rorschach, Genf und Lausanne. Weltweit würden sich 300’000 Menschen in dreissig Ländern in der ATD einsetzen.

Was wir von Eugen Brand lernen können
Es gebe verschiedene Möglichkeiten, sich für ATD zu engagieren, sagt Eugen Brand. Auf https://www.atd-viertewelt. ch sind sie aufgelistet: «Menschen, die in extremer Armut leben, entdecken, dass ihre Erfahrung andern dienen kann und dass sie sich für andere wehren können. Sie bilden sich innerhalb der Bewegung aus und werden zu aktiven Basismitgliedern. Eine Verbündete, ein Verbündeter der Bewegung zu sein, bedeutet, sich der Bewegung verbunden zu fühlen und ihre Tätigkeit auf verschiedene Art dauerhaft zu unterstützen. Dass kann auf finanzielle Art sein, durch den Jahresbeitrag oder durch regelmässige Spenden. Das kann aber auch durch eine der verschiedenen Arten sein, sich im Rahmen der Bewegung zu engagieren. Ständige Volontäre engagieren sich langfristig an der Seite der ärmsten Menschen, damit sich diese voll und ganz an der Gesellschaft beteiligen und Akteure des Wandels sein können.» Auch dafür hat Eugen Brand ein Bild: Die verschiedenen beteiligten Menschen haben verschiedene Werkzeugkisten – ATD Vierte Welt gibt ihnen das benötigte Werkzeug.

THOMAS RAAFLAUB

Weitere Fotos unter https://tinyurl.com/6e4ah7m8

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ZUR PERSON

1950 Geburt im Scheidbach; Primarschule Turbach; Sekundarschule Ebnit; Seminar Hofwil; Lehrer in Forst Längenbühl
1972 Erste Aufgabe im Rahmen von ATD mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien in einer Obdachlosensiedlung in Paris
1975 Mit Familien in einem Slum in New York tätig
1977 Einsatz mit Schweizer Familien in den Notsiedlungen in Basel.
1981 Zusammen mit seiner Frau Anne Claire verantwortlich für ATD Schweiz
1985 Verantwortlicher für die internationale Öffentlichkeitsarbeit und Zusammenarbeit mit andern Organisationen
1988 Nach dem Tod des ATD-Gründers Joseph Wresinski im ersten Gesamtleitungsteam
1996 Einsatz an der Seite von Familien in grosser Armut und Freunden, die ATD in Bolivien aufbauen wollen.
1999– Generaldelegierter von ATD in ihrem Einsatz weltweit an der Seite von
2012 Menschen in Armut. Aufbau eins Gedenk- und Forschungszentrums
2013 Sabbatical Aufenthalt im Turbach
2014 Einsatz im Haus der ATD von Treyvaux, wo Eltern mit ihren Kindern, die fremdplatziert sind, wieder gemeinsames Vertrauen und festen Boden unter den Füssen fassen können. Realisierung einer Dokumentarfilm-Serie welche zur Begegnung mit Menschen, die in der Schweiz und weltweit, der Armut die Stirn bieten Das Projekt wurde auch von der Gemeinde Saanen unterstützt.

Die USB-Box «Was ist aus uns geworden» ist über [email protected] erhältlich.  


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