Himmlisches Duell

  07.05.2021 Leserbeitrag

SONJA WOLF
«Das schaffst du niemals! Geh lieber heim und iss ein Schokoeis!», kicherte das Teufelchen auf meiner linken Schulter. «Hör nicht auf ihn», säuselte beschwichtigend das adrett angezogene Engelchen auf meiner rechten Schulter. «Du kannst die Steigung ja gehen, anstatt zu rennen …» Steigung war fast zu viel gesagt. Ich hatte mir zum ersten Joggen in dieser Saison die Strecke Gérignoz–Rougemont ausgesucht, die eher gemächlich nicht weit der Saane entlang durch die Wiesen geht. Das Teufelchen krallte sich nur noch mit äusserster Anstrengung an meiner Schulter fest und wäre fast abgestürzt vor lauter Lachen ob meiner beeindruckenden Leistungen. Brav meisterte ich die Steigung gehend, joggte noch ein paar Meter weiter und kehrte bei Kilometer 1,5 um. Drei Kilometer insgesamt reichen ja für den ersten Tag, dachte ich mir und gönnte mir zu Hause erst mal ein Schokoeis. Morgen war ja auch noch ein Tag …

Tag 2: Ich wieder am Start. Das Engelchen hatte sich weisse Sportschuhe angezogen und pfiff wild motiviert auf einer Trillerpfeife, während das Teufelchen demonstrativ auf einer Sonnenliege seinen Cocktail schlürfte: «Willst du dir das wirklich antun?» – Und ob ich wollte! Die Steigung von gestern ging auch schon im sportlichen Lauftempo, die 1,5-km-Marke kam mir diesmal eher lächerlich vor. Hurra, heute schon vier Kilometer! Mein weisser Freund klopfte mir anerkennend auf die Schulter: «Bis zum Ende der Woche schaffst du es bis nach Rougemont!»

Tapfer rannte ich also die Strecke jeden Tag. Der Bahnhof von Flendruz an Tag 3 noch in unerreichbarer Ferne, am nächsten Tag überraschend schnell erreicht und hinter mir gelassen. Na also, geht doch! Das Teufelchen begann, unfair zu spielen und kleine Steinchen Richtung rechte Schulter zu werfen, doch ohne Erfolg.

Und dann, am Ende der Woche, kam tatsächlich der grosse Moment: Da tauchten sie erhaben vor mir auf, die Mauern der St.-Nicolas-Kirche von Rougemont. «Hallelujah!», schmetterte der Engelschor von meiner rechten Schulter. Mein kleiner weisser Freund hatte sich extra drei Kollegen dazugeholt, um Händels Werk mit allen Chorstimmen vorzutragen. Ich war fast ein wenig gerührt. Und das Teufelchen? Gähnende Leere auf der linken Schulter – krankgeschrieben!

Beschwingt rannte ich die Strecke wieder zurück, grüsste alle Spaziergänger und Velofahrer überschwänglich und freute mich über die geschafften acht Kilometer. Ewig dafür gebraucht und ein Wahnsinnsziehen in den Knien, aber immerhin. Der Engelschor zog sich zufrieden jubilierend zurück, Mission geglückt, und machte – wenn ich mich nicht komplett irre – einige gar nicht engelhafte Fingergesten in Richtung der kochenden Hölle auf der anderen Seite.

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