«Mein Sohn ist ein Apfeldieb»

  08.06.2021 Leserbeitrag

Die Geschichte von Nelson Jimenez, die ich heute schildere, ereignete sich vor langer Zeit. Sie ist absurd, aber wahr, wie leider alle Geschichten in der Bolivienspalte. Nelson hat nie in Tres Soles gelebt, wir haben ihn noch nicht einmal gekannt, aber ich erfuhr von seinem tragischen Schicksal durch einen unserer Bekannten, der mit ihm verwandt war.

Ich möchte an dieser Stelle an meinen vorletzten Artikel (AvS vom 1. April) erinnern, in dem die Karfreitagspassion, die wir alljährlich aufführen, zur Sprache kam.

Da wir mit dem Kreuzweggedanken auch Brücken zur Gegenwart schlagen wollen, haben wir vor längerer Zeit noch zwei weitere Stücke inszeniert: den «Kolonialen Kreuzweg», in dem es um die Geschichte Boliviens und die Ungerechtigkeiten während der spanischen Besatzungszeit geht, und das Stück «Der König der Apfeldiebe», eine Chronik des Leidens unserer Kinder in der heutigen Zeit, der das Schicksal von Nelson Jimenez zugrunde liegt.

Hier nun seine Geschichte:
Am 18. Januar 1988 war Nelson ungefähr zehn Jahre alt. Als er an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, fand er in dem Zimmer, in dem er mit seiner Familie am Stadtrand von Quillacollo wohnte, niemanden vor. Der Vater war sicherlich wieder irgendwo in einer «chichería», wo Maisbier ausgeschenkt wurde und vertrank seinen mageren Lohn als Gelegenheitsarbeiter. Die Mutter dahingegen war, zusammen mit den kleineren Geschwistern, auf dem Markt und versuchte, die Handvoll Karotten und Tomaten, die sie von einem Grosshändler bezog, zu verkaufen, um ein paar Pesos zu verdienen. Sie würde von dem Geld wie üblich etwas Reis oder Nudeln und ein paar Knochen kaufen und abends in dem Zimmer, das sie bewohnten, auf dem kleinen Gaskocher eine Suppe kochen, zu mehr reichte es bei ihnen nicht. In dem Zimmer gab es ein Bett für die Eltern und auf dem festgestampften Erdboden lagen ein paar zerschlissene Matratzen für die Kinder. Während der Regenzeit lief das Wasser durch das Dach. Es gab keine Toilette und erst recht kein fliessendes Wasser. Am Monatsende kam es regelmässig zu einem Drama, da das Geld für die Miete nie ausreichte, auch wenn sie noch so bescheiden war. Irgendwann einmal hatte der Besitzer sogar ihre gesamte Habe auf die Strasse gesetzt. «Wenn ihr die Miete nicht bezahlen könnt, hättet ihr in eurer Hütte auf dem Land bleiben sollen!», hatte er gebrüllt und noch einige Beleidigungen hinzugefügt. Nelson sah sich im Zimmer um. Manchmal lag noch irgendwo zwischen dem schmutzigen Geschirr ein Stück Brot oder eine Banane. Es gibt ein geflügeltes Wort, das besagt, dass in Bolivien niemand Hungers sterben muss, weil immer irgendwo noch eine Kante Brot oder eine Banane aufzutreiben sei. Heute gab es jedoch nichts für Nelson. Nur die Exkremente einer unerwünschten Besucherin. «Vielleicht hat die Ratte den Brotkanten gefressen oder für ihre Jungen mitgenommen», dachte Nelson und setzte sich seufzend auf den Rand des Bettes, ohne seine Schuluniform, bestehend aus einer blauen Hose und einem weissen Hemd, auszuziehen. Er hatte Hunger, so viel stand fest. Es schwindelte ihn leicht, obwohl er eigentlich an Hunger gewöhnt war. Normalerweise, wenn es nichts zu essen gab, nahm er seine Schuhputzkiste und ging auf die Strasse, um Passanten die Schuhe zu putzen. Von den paar Centavos kaufte er sich dann Schokolade oder ein paar Kekse. Heute hatte er jedoch viele Hausaufgaben. Er hatte sich vorgenommen, ein guter Schüler zu sein, damit er einen Beruf erlernen oder sogar studieren konnte. Er wollte nicht so wie seine Eltern leben, die sich auf so elende Weise durchs Leben schlugen, und er wollte dereinst auch nicht seine Kinder verprügeln, so wie das sein Vater tat, wenn er betrunken war. Alle hatten sie Angst vor ihm, auch die Mutter. Es nützte auch nichts, unters Bett zu kriechen, denn der Vater kippte es einfach um und drosch mit einem Stock auf sie los.

Nelson schüttelte sich, als ob er seine düsteren Gedanken abstreifen wollte, nahm seine Bücher und seine Hefte aus dem Rucksack und begann, auf dem Bett sitzend, denn einen anderen Platz gab es nicht, seine Hausaufgaben zu machen. Nach einer Weile legte er den Bleistift zur Seite. Der Hunger quälte ihn. Sollte er vielleicht doch eine kleine Runde mit seiner Schuhputzkiste machen? Er tauschte die Schuluniform gegen seine alte Kleidung, nahm seine Kiste, trat aus der Tür – und verharrte. Im benachbarten Garten stand ein Apfelbaum. Die Äpfel waren reif und von tiefroter Farbe. Nelson war normalerweise niemand, dem auch nur die Idee kam, zu stehlen, aber jetzt dachte er an die Hausaufgaben, die er nicht würde beenden können. Es war nämlich schon später Nachmittag und es wurde abends auf einen Schlag dunkel und in ihrem Zimmer gab es kein Licht. Er stellte die Kiste ab und sah sich um. Niemand war zu sehen. Schnell sprang er in den Garten, riss einen Apfel von einem tiefhängenden Zweig und rannte zurück. Genau in diesem Moment schwankte sein Vater von der Strasse her in den Hof. Nelson hatte gerade hastig ein paar Mal in den Apfel gebissen. «Was sehe ich da? Mein Sohn ist ein Dieb! Warte nur…», lallte der Vater undeutlich, vom Alkohol benebelt. Er stiess Nelson ins Zimmer, griff nach dem Stock und begann, auf ihn einzuprügeln. Ein Hieb traf Nelson so unglücklich am Kopf, dass er die Besinnung verlor. Der Vater, fürchterlich fluchend, öffnete ihm gewaltsam den Mund und klaubte ihm in seiner Wut mit den Fingern die Apfelreste heraus. Als ihm das nicht vollständig gelang, packte er ein Messer und schnitt ihm den Hals auf, um auch noch die letzten Reste aus der Speiseröhre zu entfernen. Seine Frau fand ihn zusammengebrochen neben dem verbluteten Jungen, als sie am späteren Abend mit den anderen Geschwistern nach Hause kam. «Was hast du mit Nelson gemacht?», schrie sie ausser sich vor Entsetzen und zerrte ihn hoch.

«Mein Sohn ist ein Dieb, ein Apfeldieb», murmelte er mit gläsernen Augen. Nelsons Mutter, anstatt zur Polizei zu gehen, half ihrem Mann, die Leiche im Erdboden ihres Zimmers zu verscharren, genau an der Stelle, wo das Bett stand. Was in den Köpfen der anderen Geschwister, die zuschauen mussten, vorgegangen sein mag, kann wohl keiner ermessen. Die Mutter bekam es am nächsten Morgen mit der Angst zu tun und verschwand mit den Kindern auf Nimmerwiedersehen. Es heisst, sie sei nach Argentinien geflüchtet. Als Nelson mehrere Tage lang in der Schule nicht auftauchte, suchte sein Lehrer sein Zuhause auf, fand aber nur den betrunkenen, nicht ansprechbaren Vater, einen üblen Gestank sowie völlige Unordnung vor. Er erstattete Anzeige bei der Polizei. Für sie war es eine Kleinigkeit, das Blut auf dem Boden auszumachen und die frisch aufgegrabene Erde unter dem Bett zu finden. Sie zwangen den Vater, seinen ermordeten Sohn eigenhändig wieder auszugraben. «Ich erinnere mich an nichts, ich war betrunken», wiederholte er nur immer wieder vor Gericht, aber letztendlich gab er die Tat zu und wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt.

Nelson Jimenez liegt auf dem Friedhof von Quillacollo/Cochabamba begraben. Viele Menschen behaupten, er sei wundertätig und legen ihm Blumen und Äpfel aufs Grab.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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