Auf den Spuren meiner Ahnen

  04.06.2021 Abländschen

Boltigen im oberen Simmental. Eine Verkehrstafel an einer schmalen Strasse weist auf die Verbindung über den Jaunpass nach Fribourg. Die Weiden sind durch einen einfachen Drahtzaun von der schmalen Strasse abgegrenzt. Es gibt Ausweichstellen für den Gegenverkehr, die Kühe haben Vorrecht. Auf der andern Seite des Passes sind die Ortsbezeichnungen in deutscher Sprache, obwohl sie schon zum Kanton Fribourg gehören. Das deutet auf Zweisprachigkeit hin. Und das trifft fürwahr auf jassende Kartenspieler in der einzigen Gastwirtschaft zu, die in leidenschaftlichem Jassjargon – Schweizer Dialekt und Französisch gemischt – für den Laien unverständlich konversieren. Das Bild erinnert mich an Paul Cézannes «Die Kartenspieler».

In einem Gasthaus in Jaun liegt eine vergilbte, längst vergriffene Broschüre (2009) über Abländschen auf, die eine interessante Perspektive offenbart: «Abländschen, verschollen zwischen zwei Kantonen.» Die Broschüre enthält etliches über Geschichte, Wirtschaft und Infrastruktur, aber hauptsächlich Interviews mit den noch 36 verbliebenen Einwohnern. (Anm. der Redaktion: Diese Porträtserie von Nicole Maron, damals Journalistin beim «Anzeiger von Saanen», wurde zwischen Juni und Oktober 2008 im «Anzeiger von Saanen» publiziert und kam 2009 unter dem Titel «Einblicke und Augenblicke – Geschichten aus Abländschen» als Broschüre heraus.)

Vor meiner Auswanderung nach Amerika wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dorthin zu gehen, weil Abländschen schon rein vom Namen her als abgelegene Landschaft oder «abländisch» galt und von der Zivilisation vergessen wurde. Dabei sind ja meine Vorfahren von dort. Erst aus zeitlicher Distanz und mehr als 3000 Kilometer entfernt von meinem jetzigen Zuhause ist mein Interesse erwacht. Es ist nicht ein ernsthaftes Suchen nach meinen Wurzeln, sondern eher ein grossräumiges und grosszügiges Bestätigen, was ich schon zeitlebens wusste (ich bin nämlich blosse 20 Kilometer Luftlinie von Abländschen aufgewachsen): Mein Urgrossvater väterlicherseits ist 1899 in die USA ausgewandert. Ein simpler Eintrag bei der Einwohnerkontrolle in Saanen bestätigt das, und auf einem Schiffsmanifest in Le Havre taucht sein Name auf, um danach auf der andern Seite des Atlantiks, im Staat Ohio, verloren zu gehen. Bestätigt ist auch, dass seine Tochter in eine amerikanische Familie heiratete, die später nach Kalifornien zog.

So stelle ich mir sehr viel vor und projiziere von meinen Landschaftseindrücken eine Geschichte aufs Papier. «Landschafts-Lesen in den Gastlosen», wie ein Dichter. Ich habe sie noch nicht geschrieben, denn wer liest heute noch solches? Und so stelle ich mir vor, es könnte doch ein Video werden mit mir in der Hauptrolle: «Auf den Spuren meiner Ahnen.» Notabene sind Dichterlandschaften im Zeitalter moderner Infrastrukturen und Informationen eine Definitionssache und touristisch von Reisespezialisten und Medien beherrscht, damit ein Reisevorschlag eingebunden werden kann. Aber das ist wegen des im März letzten Jahres ausgerufenen Covid-Notstandes in der Schweiz nicht mehr so. Diese Bemerkung betrifft allerdings weniger Abländschen, weil es nie von Dichtern und Touroperaters überrannt worden ist. Trotzdem …

Es ist jetzt schon Spätherbst und die prachtvollen Farben der im Sommer so imposanten Gastlosen am Horizont, in den blauem Himmel ragend und mit grünen Matten im Vordergrund, sind verblichen, als ich mich auf den Weg begebe. Die vor 13 Jahren von einer Journalistin aus Zürich (einer «Furtharigen», wie man Zugezogene im Saanenland nennt, Anm. der Redaktion) geschriebene Artikelserie wird zum Kompass, nicht nur geografisch, sondern auch emotional. Die über die Ortsansässigen gemachten Interviews – geschrieben mit viel Einsicht und Einfühlungsvermögen – sind dabei als Summe ihrer Einzelheiten zum Bild einer Volksseele geworden, das von den Bergen geprägt ist, zu denen ich Affinität, ja sogar Dazugehörigkeit verspüre. Meine Autoreise war so geplant, dass ich auf der Rückfahrt, auf der Autobahn Fribourg– Bern–Interlaken den Nachrichten- und Unterhaltungssender in französischer Sprache hören würde (mit Kopfhörern, wie in Amerika auf langen Reisen) und zum Fahrvergnügen zwischen zwei Kulturen und zugleich zur verspäteten kulturellen Nacherziehung gekommen wäre. Erst in Jaun entscheide ich mich, eine Abkürzung über eine schmale Strasse über den Mittelberg nach Saanen (noch mein Heimatort im Schweizer Pass) zu nehmen.

Durch den zeitlichen Ablauf und der Planung meiner Reise in die Vergangenheit und bedingt durch die Covid- 19-Pandemie war die Zeit zu kurz, um tiefere Aufschlüsse über dieses eigensinnige Volk zu finden. Die Porträts der noch verbliebenen älteren Einwohner würden mir aber erlauben, mittels roots.com und anderen ähnlichen Plattformen (z.B. Swiss Roots) bis weit in die letzten Jahrhunderte zu beweisen, dass hier meine DNA ist und wir alle einander verwandt sind, und eine Geschichte oder ein Drehbuch zu produzieren.

Oben angelangt, muss ich mich noch einmal entscheiden, ob ich die Strasse nach rechts oder nach links nehmen will. «Oben» ist hier nicht der höchste Punkt, sondern die Strassengabelung, die noch unter der Waldgrenze liegt und rechts nach Abländschen oder links durch den Grischbach nach Saanen führt. Man ist hier nahe bei den Gastlosen, aber unterhalb der SAC-Grubenberghütte, zu der keine Strasse hinaufführt. Der Tag ist fortgeschritten und auf einer naturbelassenen Strecke sind ein paar gelb-rot gekleidete Strassenarbeiter mit Motorsägen und Korbkranlift damit beschäftigt, Tannen zu fällen und aus dem Weg zu schaffen, bevor sie mich nach einer Stunde Warten durchwinken. Ich wollte unerkannt bleiben, aber mein Mietauto mit AI-Nummernschild verrät mich.

Und die Reise endet hier anders als erwartet. Gegen Nordosten, dem Horizont des benachbarten Simmentals entlang, erscheint die Landschaft grossräumig und hell. Drehe ich mich um, gegen Südwesten, reicht mein Blick etwa einen Kilometer weit bis an die Wände der Gastlosen. Normalerweise würde ich jetzt – klick-klick – mit einer Weitwinkelobjekt-Einstellung eine weitere Foto in die Galerie meines neusten Samsungs posten (nur eine von etwa tausend). Aber sogar ich als Laie kann mit blossem Auge erkennen, dass der Hintergrund mit dem Grau der Felswände im Vordergrund keine Konturen erkennen lassen würde (Vordergrund-Mittelgrund-Hintergrund gilt seit dem frühen 17. Jahrhundert dem Künstler als Maxime). Mit angewinkeltem Ellenbogen lehne ich zum Fenster hinaus und rieche Schnee. Leise (ja fast unheimlich) fällt er als weisser, feiner Staub auf die Windschutzscheibe meines schwarzen Golfs.

Das Wetter macht die Entscheidung leicht und ich begebe mich auf den Weg nach links «durch den Grischbach», wo es irgendwo am Weg noch Überreste einer Grundmauer einer alten abgebrannten Sägerei geben soll – die meines Urgrossvaters, der 1899 mit zwei seiner jüngsten Töchtern mittel- und landlos auswanderte. Der Grischbach, auch auf der Karte nicht als Tal bezeichnet, ist durch seine Lage und Abschüssigkeit nur für Holzschlag nutzbar. Die Strasse, mit spitzen Kehren im oberen Teil, bleibt immer auf derselben Seite (dem Osthang) und keine Brücke erlaubt eine Überquerung auf die andere Seite an den Westhang. Wieso auch? Beide Seiten sind sowieso je einen halben Tag im Schatten. Der untere Teil gehört zum Regionalen Naturpark Gruyère Pays-d’Enhaut und ist auf Waadtländer Boden. Die Strasse ist in erstaunlich gutem Zustand und geteert. Durch den Vanel, bei Rougemont, flacht sie aus und es gibt eine Brücke, von wo die Kantonsstrasse nach Saanen beginnt.

Dass ich mich dorthin (via Sulz nach Rougemont, Anm. der Redaktion) verirren konnte, verdanke ich dem amerikanischen Smartphone, das keine Verbindung zum Netz hatte. Der hinter mir gelassene Schnee hat sich in Regen verwandelt und wird nun für den Rest meiner Reise ein stetiger und bedrohlicher Begleiter sein. In Gstaad sitzt der Nebel dicht zwischen den schmucken Gassen. Die Mondänen und Reichen sind nirgendwo zu sehen, der Regen fliesst in Strömen und es ist schon Nacht.

Die engen Kurven durch das Simmental meistere ich dank meinem Smart Car ohne Probleme – als wäre ich in einem Unterseeboot mit Instrumenten, Ortsangabe und steter Geschwindigkeitskontrolle immer auf Vordermann. Eine laute, unsichtbare Stimme brüllt Befehle: «Bleiben Sie auf Ihrer Strassenseite!» oder «Halten Sie sich an die Geschwindigkeit!». Ihr entgeht nichts! Ich gewöhne mich daran, besonders in den Tunnels entlang des Brienzersees. Ich bin erleichtert, als ich um Mitternacht in Meiringen ankomme (ich habe das Auto sogar ein wenig lieb bekommen) und der innere Schurke macht mich lachen, als wäre ihm gerade die Flucht gelungen.

Der Föhn hat während meiner Abwesenheit sein Werk an meiner gemieteten Dachwohnung getan und ein paar Schindeln abgedeckt. «My Room with a View» in Anlehnung an Alfred Hitchcocks Film wurde zum nassen Zimmer und ebenso nassen Bett. MARKUS POSCHUNG

Markus Poschung wohnt in Pewaukee, im Bundesstaat Wisconsin, etwa 150 km nördlich von Chicago im Bundesstaat Illinois sowie 30 km westlich von Milwaukee, der grössten Stadt im Bundesstaat Wisconsin. Die Region wird geografisch zusammenfassend der Obere Mittlere Westen genannt und ist im Gebiet der Grossen Seen.


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