Johannisnacht in Bolivien

  27.07.2021 Leserbeitrag

Auch in dieser und in den nächsten Bolivienspalten möchte ich mich noch ein wenig mit den Bräuchen in Bolivien beschäftigen, von denen es zahlreiche gibt. Die Tradition der Johannisnacht ist ein typisches Beispiel für das Verschmelzen von Bräuchen unterschiedlicher Kulturen, nämlich die der Kelten, der Spanier und der indigenen Bevölkerung. Alle Völker auf der Erde, die sich auf irgendeine Art und Weise mit Astrologie befasst haben, feierten die Sonnenwende, sowohl den kürzesten auch als den längsten Tag. Der Brauch, an der Sommersonnenwende Feuer anzuzünden, hat wohl seinen Ursprung bei den Kelten, die damit der Sonne Kraft und Wärme übermitteln wollten, denn bekanntlich werden die Tage nach der Sommersonnenwende wieder kürzer. In Europa, besonders auf der Iberischen Halbinsel, wurde dieser Brauch nach der Christianisierung auf die Nacht vom 23. zum 24. Juni verlegt, auf die sogenannte Johannisnacht, um ihm den heidnischen Charakter zu nehmen.

Der Legende nach soll Zacharias, der Vater von Johannes dem Täufer, in der Nacht seiner Geburt ein grosses Feuer angezündet haben, um vom frohen Ereignis zu künden. In Spanien und Portugal ist das Fest des Johannes bis heute mit dem Feuer und natürlich mit dem Wasser verbunden, die beide eine reinigende Wirkung haben. Im Verlauf der Jahrhunderte ist auch viel Aberglauben um diese beiden Elemente entstanden. «Wenn man in dieser Nacht den Zettel verbrennt, auf dem steht, was man vergessen will, geht es einem das ganze Jahr gut» oder «Wer sich mit dem Tau dieser Nacht wäscht, hat das ganze Jahr einen Schutzengel».

An Johanni, wie es mancherorts auch heisst, wurden alte Sachen wie Kleidung oder Gerümpel, die nicht mehr verwendet wurden und sich während des Jahres angesammelt hatten, verbrannt, um einen geistigen und materiellen Neuanfang zu ermöglichen. Ein alter Aberglaube besteht auch darin, dass man um Mitternacht in das Meer oder in einen See eintauchen soll, um sich von allen Sünden «reinzuwaschen». Ebenso wurde empfohlen, die Felder in dieser Nacht mit Quellwasser zu begiessen, da es von Johannes dem Täufer gesegnet sei. Auch in den vorkolumbischen Kulturen Amerikas wurde die Sonnenwende gefeiert, vor allem von den Inka und Aymara, deren höchste Gottheit die Sonne war.

Auf der südlichen Erdhalbkugel findet im Juni allerdings die Wintersonnenwende statt. Man veranstaltete ein grosses Fest, das Inti Raymi, um ebenfalls der Sonne Energie zu übermitteln, denn man hatte Angst, dass sie verlöschen könnte. Für die Aymara bedeutet die Wintersonnenwende überdies auch den Beginn eines neuen Kalenderjahres.

Als ich 1987 nach Bolivien kam, wurden damals noch vor jedem Haus Feuer angezündet und die alten Sachen verbrannt, selbst mitten in der Stadt. Die ganze Nacht lang, die im Volksmund als die kälteste Nacht des Jahres gilt, sass man um das Feuer, grillte Würstchen und trank alkoholische Getränke. Auf keinem anderen Fest, abgesehen von Karneval, wurde und wird heute noch so viel getrunken wie in der Johannisnacht.

Ich erinnere mich an die Anfänge von Tres Soles. So wie beim Pilgermarsch an Ostern, über den ich schon berichtet habe, waren es diese Jugendlichen gewohnt, in der Johannisnacht buchstäblich bis zur Bewusstlosigkeit zu feiern und zu trinken. In jenem Jahr war es mein freier Tag und sie feierten zusammen mit dem Nachtbetreuer von Tres Soles. Als ich am nächsten Morgen dorthin kam, sah ich schon von Weitem, dass es ein Fehler gewesen war, freizunehmen, Nachtbetreuer hin oder her. Die Tür zum Hof stand sperrangelweit offen und bewegte sich schwach im eisigen Wind, der in dieser Zeit von den Schneebergen herunterweht. Überall fand ich Erbrochenes und leere Bierund Schnapsflaschen. Der Nachtbetreuer sass reglos mit geschlossenen Augen im Flur auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Ein Rinnsal lief ihm aus dem Mund in den Bart. Mehrere Fensterscheiben waren zerschlagen, überall lagen zertrümmerte Stühle herum.

«Wach auf, he du, wach auf!», schrie ich und rüttelte den Nachtbetreuer an den Schultern. Ich befürchtete schon das Schlimmste. Doch der Nachtbetreuer öffnete röchelnd ein Auge. «Sofort sagst du mir, was passiert ist!», brüllte ich ihn an. «Diese verflixte Johannisnacht …», murmelte er und wischte sich mit dem Handrücken über Mund und Bart. «Die Jungs … ich habe einen Moment nicht auf sie aufgepasst …!

«Und du? Auf dich hast du wohl auch nicht aufgepasst, wie?» Er antwortete nicht, sondern blickte mich nur mit glasigen Augen an. Ich entliess ihn auf der Stelle. Mehrere Jugendliche mussten mit Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus gebracht werden.

«Dass die Eltern auch nicht auf ihre Kinder aufpassen», murmelte der Arzt und blickte mich missbilligend an, gerade so, als ob ich der liederliche und verantwortungslose Vater gewesen wäre. «Solche Eltern sollte man ins Gefängnis stecken, meinen Sie nicht auch?»

Nachdem alle wieder gesundheitlich hergestellt und zu Hause waren, fragten sie mich niedergeschmettert: «Was machen wir bloss nächstes Jahr in der Johannisnacht, damit du nicht unseretwegen ins Gefängnis kommst?»

Offensive ist die beste Verteidigung, heisst es irgendwo in einem Kriegshandbuch. «Nächstes Jahr feiern wir zusammen», erwiderte ich kurz und bündig. Dieselbe Strategie hatte ich schon bei anderen Gelegenheiten erfolgreich angewandt.

«Doch nicht mit Bier und Schnaps?» Sie kannten natürlich die Antwort längst, die da hiess: «Ohne Bier und Schnaps.» Im nächsten Jahr, am Johannistag, bereiteten wir ein leckeres Essen zu, stellten eine Musikanlage im Hof auf und zündeten ein mächtiges Johannisfeuer an. So machten wir es von da an jedes Jahr, bis die schlimmsten Alkoholprobleme der Jugendlichen überwunden waren – und die Stadtverwaltung das Johannisfeuer verbot.

Durch die Bevölkerungsexplosion und die Landflucht waren die Städte, auch in Bolivien, rasant gewachsen und Tausende und Abertausende von Johannisfeuern verursachten eine solche Luftverschmutzung, dass der Rauch anschliessend tagelang wie ein dicker Nebel über der Stadt hing und keinen Sonnenstrahl durchliess. Auch wenn es sich aus heutiger Sicht makaber anhört, wenn man an die aktuellen Klimaprobleme denkt, aber irgendwie fand ich es damals schade, nicht mehr all die Klebstoffdosen, Schnapsflaschen und Zigarettenschachteln verbrennen zu können, die wir im Laufe des Jahres den Jugendlichen abgenommen und gesammelt hatten.

STEFAN GURTNER

Stefan Gurtner ist im Saanenland aufgewachsen und lebt seit 1987 in Bolivien in Südamerika, wo er mit Strassenkindern arbeitet. In loser Folge schreibt er im «Anzeiger von Saanen» über das Leben mit den Jugendlichen. Wer mehr über seine Arbeit erfahren oder diese finanziell unterstützen möchte, kann sich beim Verein Tres Soles, Walter Köhli, Seeblickstrasse 29, 9037 Speicherschwendi, E-Mail: walterkoehli@ bluewin.ch erkundigen. Spenden: Tres Soles, 1660 Château-d’Oex, Kto.-Nr. 17-16727-4. www.tres-soles.de


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