Kinder, Kanton und Käse

  19.11.2021 Porträt

Sie steht für Aufrichtigkeit, Naturverbundenheit und Freundlichkeit – und dafür, nicht gleich aufzugeben: Ursula Michel aus Gstaad wurde von Ruth Lüthi als Alltagsheldin nominiert.

BLANCA BURRI
«Was ist eine Alltagsheldin?», frage ich Ursula Michel zu Beginn unseres Gesprächs auf der Sonnenterrasse ihres Hofes in der Rütti, während Tochter Emily auf dem Rytiplampi hin und her schaukelt. «Jemand, der schwer zu tragen hat, durch das Schicksal oder die Gesundheit – und trotzdem positiv bleibt.» Einen Rucksack tragen wir alle, die einen sind praller gefüllt als andere. Von einigen kennen wir den Inhalt, von anderen nicht. Ursula Michels Rucksack enthält drei voluminöse Dinge: eine Kündigung mit 22, einen Abschied eines Ungeborenen und einen Tango mit dem Kanton.

«Ich war immer eine Person, die nicht dem Frieden zuliebe auf den Mund sitzen konnte.» Das bescherte Ursula Michel einen holprigen Start ins Berufsleben. Nach der KV-Lehre in der Rehaklinik Heiligenschwendi blieb sie im Ausbildungsbetrieb. Doch schon nach wenigen Monaten wurde sie freigestellt. Weshalb? Sie teilte die Philosophie des Kantons, der die Rehaklinik besitzt, nicht und getraute sich, dies zu sagen. Dass ihr gleich bei der ersten Stelle gekündigt wurde, nagte lange an ihr. «Es war wie ein Klecks im Reinheft des Berufslebens.»

Um diesen Klecks nicht länger betrachten zu müssen, setzte sie sich kurzerhand ins Flugzeug, das sie ans andere Ende der Welt brachte. In Neuseeland arbeitete sie auf einer Farm und bereiste später das Land. Vorher jedoch hatte sie sich nach einer neuen Stelle umgesehen. Nur zwei Tage vor dem Abflug hatte sie einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben. «Bei dieser zweiten Arbeitsstelle würde ich noch heute tätig sein, wenn ich nicht nach Gstaad gezogen wäre. Es war ein genialer Betrieb.» Die Sigriswilerin verliess ihre Heimat wegen der Liebe und fand eine neues Zuhause bei Daniel Michel, einem leidenschaftlichen Landwirt und Skilehrer in der Rütti. Im Saanenland wurde sie mit offenen Armen empfangen: «Ich fühlte mich aufgrund des sozialen Umfeldes meines Mannes sofort ganz wie daheim.»
Wie daheim sieht es auch im neu erbauten Bauernhaus aus. Eine grosse Wohnküche mit massivem Holztisch und einem Teil der alten Fassade als Wanddekoration sprechen von gemütlichen Stunden mit Familie und Freunden.

Das Wort romantisch beschreibt die ersten Jahre in Gstaad wohl am präzisesten. Ankommen. Einleben. Hochzeit. Geburt von Andri. Wieder in Erwartung und – Hiobsbotschaft! Dem jungen Paar wurde mitgeteilt, dass das zweite Baby schwerst beeinträchtigt sei. Nicht lebensfähig. Das Baby verabschiedete sich noch vor der Geburt auf natürliche Weise vom Leben. «Das Schicksal hat uns geprüft, als Paar und als Familie. Es hat mich wachgerüttelt und gezeigt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass alles nach Plan läuft», blickt sie zurück. Es folgten Jahre des Trauerns und des Wartens auf das Glück. Auf diese Zeit schaut die Bäuerin mit gemischten Gefühlen zurück. Sie waren lang, tief und zäh. Was kann man anderes als durchhalten? Die manchmal dunkeln Tage über sich ergehen lassen? «Es vergingen über drei Jahre, bis wir unsere Tochter Emily endlich in den Armen halten durften.» Und damit kehrte die Lebendigkeit zurück. Bereits zwei Jahre später freuten sich alle über die Geburt des dritten Kindes Gian, das die Familie komplettierte.
Damit hätte alles einen beschaulichen Lauf nehmen können, wenn …

… da nicht die Mitteilung die Runde gemacht hätte, dass die Geburtenabteilung des Spitals Zweisimmen geschlossen wird. Nachdem bereits das Spital Saanen geschlossen worden war eine schlimme Nachricht für die Bergregion. Ein auf neues Leben und Nachwuchs ausgerichtetes Angebot sollte gestrichen werden. Die Abwanderung wäre wohl vorprogrammiert gewesen, denn künftig sollten alle werdenden Mütter in Thun, Frutigen oder Aigle entbinden und damit im besten Fall eine Stunde Fahrt in Kauf nehmen. Das empörte Ursula Michel und wie bei der Rehaklinik konnte sie nicht auf den Mund sitzen. Sie schloss sich der Gruppe kämpferischer Mütter, Hebammen und besorgter Sympathisanten an, die sich gegen die Schliessung zur Wehr setzten. Bald schon begann ein zeitintensiver, spannungsgeladener Tanz mit Ämtern, Spitälern, Gemeinden und Bevölkerung. Die ersten Verhandlungen kehrten den Schliessungsentscheid nicht um. Statt aufzugeben, heckte die Gruppe den Plan eines unabhängigen Geburtshauses aus. «Es hat viel Energie gebraucht und eine Zeit lang fragte ich mich, weshalb ich das überhaupt tue.» Michels aussergewöhnliches Engagement in den Jahren 2014 bis 2018 als Präsidentin der tragenden Genossenschaft zahlte sich schliesslich aus. Das Geburtshaus Maternité Alpine ging 2017 in Betrieb. Bei diesem Tango hat die Landbevölkerung – dank Menschen wie Ursula Michel – die Führung übernommen und gewonnen. Das Geburtshaus bietet Sicherheit, sodass junge Familien in der Bergregion bleiben. Während sie erzählt, betritt Ehemann Daniel die Terrasse. Gemeinsam mit seiner Frau holt er den grossen Sonnenschirm und spannt ihn auf, Emily kurvt mit dem Fahrrad ums Haus.

Vor wenigen Jahren haben Ursula und Daniel Michel den elterlichen Hof übernommen. Die Aufgaben sind gewachsen. Sie bewirtschaften den Talbetrieb, den Alpbetrieb, führen im Winter Michel’s Stallbeizli, organisieren die Direktvermarktung und ziehen drei Kinder gross. Daneben engagieren sie sich in Vereinen wie beispielsweise im Vorstand der Maternité Alpine, dem Ursula Michel dieses Jahr wieder beigetreten ist. Die Liste der Aufgaben scheint endlos zu sein und die Frage stellt sich, wie man das alles unter einen Hut bringt. «So bin ich nun mal. Meine Familie und ich haben gelernt zu schwimmen.» Die To-do-Liste besteht aus einem Büchlein, dessen Seiten oft «schön satt gefüllt sind» und dessen Einträge von der Bäuerin Tag für Tag abgearbeitet werden, meist mit einem Lächeln auf den Lippen. Unterstützt von zuverlässigen Menschen im Umfeld, von ihrem Ehemann, den Kindern, den Mitarbeitenden und den Vorstands- und Beiratsmitgliedern.

Einen besonderen Reiz hat die Auszeit während des Bergsommers auf der Alp Turnels. «Die Kinder haben keine Hausaufgaben und keine ausserschulischen Termine und ich bin in den acht Wochen ebenfalls total terminfrei.» Das füllt die Batterien der 42-Jährigen. Dass «Bergerei» ihr eine innere Ruhe und Energie verleiht, hat sie während des zweiten Bergsommers entdeckt. «Wir haben nebenher noch das Haus gebaut, das war enorm intensiv. Aber trotz körperlicher Müdigkeit war ich innerlich sehr gestärkt.» Auf dem Alpbetrieb könne man vielen Themen wie Corona & Co. entfliehen. Deshalb würde Ursula Michel im Herbst oft am liebsten gar nicht wieder ins Tal zügeln. «Zurück im Tal überrollt mich die Realität dann schon ein wenig.» Kein Wunder sehnt sie sich im Talbetrieb manchmal zurück auf den Berg.

Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region, denn die Porträtierten wählen jeweils selbst einen/eine Nachfolger/in. Auf Wunsch von Ursula Michel besuchen wir als Nächstes Nadia Burri aus Schönried.


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