«Es muss ein Austausch stattfinden»

  30.11.2021 Porträt

Stephanie Walker aus Gsteig fand während des Biologiestudiums ihre eigene Nische: Als einzige Vertreterin der Berglandwirtschaft unter einer Mehrheit von urban geprägten Studierenden. In dieser Vermittlerrolle zwischen Gummistiefeln und Laborkittel sieht sie viel Potenzial, da sowohl auf akademischer als auf landwirtschaftlicher Seite viel gegenseitiges Missverständnis und ein gewisses Misstrauen herrscht. Im Gespräch mit dem «Anzeiger von Saanen» hält sie ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Miteinander.

FRANZISKA RAAFLAUB
Seit August trägt Stephanie Walker den Titel «Master of Science in Ecology and Evolution with special qualification in Evolution», den sie mit der Gesamtnote 5,6 an der Universität Bern erworben hat. Ihr herausragender Abschluss bildet den Anlass für unser Gespräch, daher frage ich naheliegenderweise zuerst einmal nach, wofür dieser eindrückliche Titel genau steht. Sie muss ein bisschen schmunzeln: «Evolution und deren zugrundeliegenden schrittweisen genetischen Veränderungen sind leider nicht besonders greifbar – und Englisch als Umgangssprache im Studium macht es nicht unbedingt einfach, Inhalte auf Deutsch verständlich zu vermitteln». Nichtsdestotrotz nimmt sie sich Zeit und erzählt mir von ihrem grossen Interesse an der Immunbiologie, ihren Studienschwerpunkten und ihrer Zukunftsvision: die Wissenschaft der praktischen Landwirtschaft anzunähern.

Das Interesse an Insekten und dem Immunsystem
Im Bachelorstudium widmete sich Stephanie zunächst der Insektenkunde und Immunbiologie. Am Institut für Bienengesundheit forschte sie im Rahmen ihrer Bachelorarbeit zu Wirt-Krankheitserreger-Interaktionen und dem Einfluss von Pestiziden auf Hummeln: «Die Auswirkungen von Pestiziden auf Honigbienen sind bereits gut erforscht, auf Wildbienen und Hummeln jedoch nicht, daher wollte ich in diesem Bereich tätig werden.» Die Untersuchung brachte hervor, dass Pestizide nicht nur zum Absterben von Bienen-, sondern auch Hummelkolonien beitragen können. Des Weiteren können weit verbreitete Honigbienenviren ähnliche Symptome bei Hummeln hervorrufen, welche unter dem Einfluss von Pestiziden sogar noch verstärkt auftreten. Im Masterstudium vertiefte sie anschliessend ihr Wissen zur Immunologie und erforschte deren genetische Basis und Evolution. Das Immunsystem ist anpassungsfähig und je nach Habitat (Lebensraum einer bestimmten Tier- oder Pflanzenart) unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt – in Anbetracht des aktuellen pandemischen Geschehens natürlich ein Thema von grösstem Interesse. Um der genetischen Basis für diese Anpassungsfähigkeit des Immunsystems näherzukommen, galt Stephanies Interesse den Fischen, die in verschiedenen Lebensräumen unterschiedlichen Krankheitserregern und somit Herausforderungen für das Immunsystem ausgesetzt waren.

Woher kommt diese Faszination für Insekten und die Natur im Allgemeinen? «Schon als Kind hatte ich viele Fragen und wollte stets genau wissen, warum etwas so ist wie es ist. Ich bin auf einem landwirtschaftlichen Betrieb mit eigener Imkerei aufgewachsen, daher haben mich besonders die Bienen fasziniert. Meine Freizeit verbringe ich ausserdem sehr gerne draussen in der Natur.»

Der Einstieg ins Berufsleben
«Biologie ist kein Fach mit herausragenden Jobchancen», räumt Stephanie ein. Viele ihrer Studienkolleginnen und -kollegen haben aus diesem Grund nach dem Studium die Pädagogische Hochschule gewählt, um ein Gymnasiallehrdiplom zu erwerben. «Für mich kam das aber nicht in Frage. Zum einen bin ich wohl nicht die geborene Lehrperson für junge Leute und zum anderen ist der Stellenmarkt auch in diesem Bereich eher übersättigt.» Nichtsdestotrotz bereut sie ihre Studienwahl nicht: «Man muss einfach offen und flexibel sein und etwas Geduld mitbringen – ich musste auch mit einem guten Abschluss einige Bewerbungen schreiben, bevor es geklappt hat.»
Ihre aktuelle Stellenwahl in einem Labor zur Auswertung von Corona-Tests bezeichnet sie denn auch augenzwinkernd als «opportunistisch». Nach fünf intensiven Studienjahren war Stephanie Walker mit der wirtschaftlichen Realität konfrontiert, die Abgänger und Abgängerinnen aus einem akademischem Umfeld tendenziell weniger hart trifft als Arbeiterkinder: Das Studium musste sich auszahlen. Trotz eines regelmässigen Nebenerwerbs als Hilfsassistentin im gedrängten Curriculum an der Universität war das Portemonnaie der Studentin ausgelaugt. Allzu weit von ihrem ursprünglichen Studienschwerpunkt liegt ihre aktuelle Arbeit aber nicht: «Die Pandemie ist immunologisch gesehen sehr interessant. Ich mache viel Laborarbeit, es ergeben sich jedoch immer wieder sehr spannende Diskussionen mit Leuten aus unterschiedlichen Spezialgebieten.»

Zurück zur Landwirtschaft
Mittelfristig möchte Stephanie Walker ihre Arbeitserfahrung im aktuellen Umfeld vertiefen. Langfristig sieht sie ihre Zukunft jedoch in der Nähe der Landwirtschaft, wobei sie vor allem Perspektiven in der Forschung oder Erwachsenenbildung sieht. Während des Studiums fand sie sich oft in einer Zwischenrolle: In ihrer Branche gab es kaum Studierende mit landwirtschaftlichem Hintergrund. Entsprechend gering war das akademische Bewusstsein für die Berglandwirtschaft: der Landwirt als Buhmann war ein oft gezeichnetes Bild. Umgekehrt ist das Verständnis der Landwirtschaft gegenüber der Wissenschaft auch nicht besonders ausgeprägt. Die unterschiedlichen Interessen wurden Stephanie dank ihres familiären Hintergrunds im Studium besser greifbar: «Man muss zunächst das grundsätzliche Spannungsverhältnis verstehen: Die Ziele des Landwirts als Wirtschaftssubjekt sind nicht unbedingt mit dem Schutz der Biodiversität kongruent. Werden Pestizide eingesetzt, so hat dies weniger mit fehlendem Problembewusstsein zu tun als mit der steigenden Nachfrage des Marktes. Niemand spritzt Pestizide aus Vergnügen. Dennoch sollten wir in Zukunft alles daransetzen, deren schädlichen Einsatz zu verringern.»

Eine junge Wissenschaftsdisziplin weckt Stephanies Interesse im Hinblick auf den Klimawandel und das Artensterben ganz besonders: Die Biodiversitätsforschung. Hier liegt noch viel Potenzial, denn die Bezugspunkte zur Landwirtschaft mit ihren verschiedenen regionalen Unterschieden sind noch kaum vorhanden. Aufgrund des wirtschaftlichen Drucks sei der landwirtschaftliche Sektor tendenziell wenig empfänglich für Massnahmen zugunsten der Biodiversität, die oft einen Mehraufwand generieren. Im Sinne der ökonomischen Effizienz wird oft der einfachste Weg gewählt. Hier möchte sie ansetzen: «Der Klimawandel und das Artensterben erfordern dringend einen Dialog und einen gemeinsamen Weg. Mir ist jedoch bewusst, dass Massnahmen praktisch sinnvoll umsetzbar sein müssen und hier kommt meine Kindheit auf dem Bauernhof ins Spiel: Ich kann besser abschätzen, was im Rahmen des Machbaren liegt.»

Die Interessen selber vertreten
Nach wie vor sind akademische Berufswege im Saanenland die Ausnahme. Dies sei insbesondere für den landwirtschaftlichen Bereich problematisch: «Ich finde es wichtig, dass Leute aus dem Saanenland hinausgehen und mit ihren neu gewonnenen Eindrücken zurückkommen. Wenn es um die Landwirtschaft geht, wird es schnell politisch, daher ist es wichtig, dass man seine Interessen selbst kompetent vertreten kann und nicht darauf wartet, dass es jemand anderes tut.»

Für Stephanie Walker war der Weg vom heimischen Bienenhäuschen an die Universität Bern keineswegs vorbestimmt. Als älteste von drei Schwestern hat sie schon früh auf dem Bauernhof mitangepackt und wurde von ihren Eltern mit viel Offenheit begleitet. «Ihr oberstes Credo war, dass man sich Mühe geben und auf eigenen Füssen stehen soll – egal ob als FaGe, Coiffeuse oder Studienabgängerin.» Auf die Primarschule in Gsteig folgte zunächst der Übertritt an die Sekundarschule und anschliessend ans Gymnasium Interlaken-Gstaad, wo sie 2016 mit dem Schwerpunktfach Biologie/Chemie abschloss. Nach der Matura folgte der Umzug nach Bern zum Studienbeginn.

Das Ungewisse wagen
«Man geht ein bisschen ins Ungewisse, wenn man ein Studium anstrebt – neue Mitbewohner, neue Stadt, die neue Uni … Zunächst hatte ich keine Ahnung, wie es läuft und war ziemlich überwältigt. Rückblickend hat man sich aber schnell eingefunden.» Das Studium gestaltete sich zu Beginn schwierig. Die ersten Semester dienten dazu, die sprichwörtliche Spreu vom Weizen zu trennen und man verlor einige lieb gewonnene Studienkolleginnen und -kollegen aus den Augen. Ein Auslandaufenthalt hätte sich mit der Studiensprache Englisch eigentlich angeboten, jedoch wurden diese Pläne aufgrund der schweren Krebserkrankung des Vaters aufgegeben. «Obwohl der Anlass sehr traurig war, konnte ich so die Beziehung zu meiner Familie stärken. Als mein Vater zuletzt ins Inselspital verlegt wurde, hatte ich in Bern den Vorteil, dass ich ihn jeden Tag besuchen konnte.» Trotz dieser schweren emotionalen Belastung schloss Stephanie Walker ihr Studium mit hervorragenden Leistungen ab. Ihr Lebensmut und Entschlossenheit beeindrucken mich sehr, weshalb mich ihre nächsten Projekte interessieren. Sie setzt sich für die Zukunft vor allem kleinere Etappenziele und bleibt ihrem weitsichtigen Geist treu: «Wenn man sich einen zu engen Rahmen setzt, verliert man die nötige Offenheit und verpasst vielleicht die besten Gelegenheiten.»


ZUR PERSON

Geboren 10. September 1997
2004–2010 Schule Gsteig Feutersoey
2010–2012 Spez-Sek OSZ Ebnit Gstaad
2012–2016 Gymnasium Gstaad (Schwerpunktfach Biologie und Chemie)
2016–2019 Bachelor of Science in Biology with special qualification in Ecology and Evolution
2019–2021 Master of Science in Ecology and Evolution with special qualification in Evolution


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