Kreativ – und (fast) wunschlos glücklich

  21.12.2021 Porträt

Papier zieht Theres Rütschi magisch an. Und alles, was man damit machen kann. Es durchzog ihr Leben schon immer wie ein roter Faden, beruflich wie auch privat. Ein kleiner Einblick in das Leben einer glücklichen Künstlerin.

SONJA WOLF
Wohlige Wärme und gleissendes Sonnenlicht durchflutet an diesem kalten Dezembertag die Papierwerkstatt von Theres Rütschi. Helles Holz umgibt mich, ich fühle mich direkt beim Betreten des Raumes wunderbar wohl. Mit strahlenden Augen sitzt die Künstlerin inmitten ihres Reiches – beziehungsweise läuft auch gleich ganz aufgeregt herum, um mir verschiedene Bereiche und Ecken ihres Ateliers zu zeigen. Ich spüre, dass sie sich kaum entscheiden kann, welcher Aspekt des künstlerischen Schaffens ihr besser gefällt.

Ausgerüstet ist sie jedenfalls mit allem, was ihrer kunstbegeisterten Kundschaft und ihr selbst Freude bereitet: weisse und bunte Papierbögen in allen Grössen, Kleber, Bleistifte, Brushpens, Aquarellfarben, Comics, literarische Bücher, verschiedene Maschinen zum Schneiden oder Heften und vieles mehr. Alles fein säuberlich angeordnet in beschrifteten Kisten und in den Regalen ringsherum.

Mein Blick fällt auf den grossen Arbeitstisch, wo identisch angeordnetes Material für fünf Personen vorbereitet ist. «Am Donnerstag machen wir wieder einen Handlettering-Kurs!», erklärt sie mir vorsorglich auf meinen fragenden Blick. Stolz zeigt sie mir das Resultat der Teilnehmenden aus einem vergangenen Kurs: Alle Grossbuchstaben von A bis Z hängen da ringsum an der Wand, kreativ auf einzelnen Karten verewigt. «Am liebsten sind mir eigentlich die Personen, die sich selbst für komplett talentfrei halten», schmunzelt sie. Viele Menschen hätten mit elf bis zwölf Jahren aufgehört zu zeichnen, würden es aber eigentlich noch recht gerne machen. «Zeichnen kann ja jeder Mensch, sogar einen Picasso kann jeder durch Pauspapier nachzeichnen – an der Motorik liegt es also nicht», ist Rütschi überzeugt. In solchen Fällen sei es ihr eine besondere Freude, diesen ganz und gar nicht Unbegabten die nötige Begeisterung zu vermitteln und sie vom Niveau des Zwölfjährigen wegund weiterzubringen.

Wie aber finden diese zu erweckenden Talente den Weg in Theres Rütschis Papierwerkstatt? «Da ist einmal der Frauenverein Saanen mit seinem grossen Angebot in der Erwachsenenbildung, der bei mir angefragt hat, auch meine Kurse in sein Programm aufzunehmen», erfahre ich von der Wahlsaanerin. Auch die hiesige Volkshochschule verbreite Rütschis Kursangebot. Andere Kurse wie die Montagsmaler werden eher durch Mund-zu-Mund-Empfehlungen bekannt.

Und wie ist es mit Kindern? Dürfen die in der Papierwerkstatt auch mit Text und Bild gestalten und experimentieren? «Natürlich», strahlt Theres Rütschi und wieder habe ich den Eindruck, dass sie sich nicht entscheiden kann, was ihr denn nun mehr Spass macht: die Arbeit mit den ganz kleinen oder den älteren Kunstbegeisterten. Ich nehme mir vor, gleich im Anschluss danach zu fragen. «Im Moment gibt es zwar keinen Kinderkurs hier in der Werkstatt, aber mit den Kleineren habe ich angefangen, als ich frisch im Saanenland angekommen war. Im Rahmen des Ferienpasses durften sie jeweils im Sommer an einzelnen Halbtagen nach Herzenslust mit Leim, Scheren und Papier gestalten», sprudelt es aus ihr heraus. «Das habe ich drei, vier Jahre lang gemacht und gemerkt, dass mir die Arbeit mit Kindern enorm Freude bereitet!» Umso glücklicher war Rütschi, selbst Mutter zweier Kinder, als eine Anfrage von der Primarschule Saanen kam, ob sie das Wahlfach übernehmen möchte. Und ob sie wollte! Und so vermittelt sie inzwischen jeden Freitagnachmittag den Schülern Handlettering, freies Zeichnen, Buchbinden oder Falten – eben alles, was mit Papier zu tun hat.

«Und mit welcher Altersgruppe arbeiten Sie am liebsten?» Und genau wie ich erwartet habe: Theres Rütschi kann sich tatsächlich nicht entscheiden – sie liebt es, mit beiden Gruppen zu gestalten. Der einzige Unterschied: Kinder hätten weniger Vorbehalte, etwas Neues auszuprobieren. «Aber ich schaffe es schnell, auch den Erwachsenen die Hemmungen zu nehmen.»

Woher kommt dieser Spass am Gestalten und diese magische Anziehungskraft von Bild und Text im Leben von Theres Rütschi? «Gelernt habe ich Verlagsbuchhändlerin im Diogenes Verlag in Zürich» – also nicht weit entfernt von ihrem Heimatdorf bei Winterthur. Im Rahmen der Lehre hatte sie die Gelegenheit, alle Abteilungen eines grossen Verlagshauses kennenzulernen: von der Herstellung über das Lektorat, die Presseabteilung oder das Marketing bis hin zum Vertrieb. Schon damals habe ihr die Gestaltung am besten gefallen. Ein Grund dafür, etwas später – mit 25 Jahren – noch freie Kunst an der Hochschule der Künste in Bern zu studieren. «Allerdings war mir der Kunstbetrieb zu heavy, im Kunstbetrieb muss man sich extrem behaupten. Ausserdem habe ich die Bücher vermisst!», sagt sie mit einem Seufzer.

Folgerichtig sei sie dann ins Verlagswesen zurückgegangen. Es folgte eine lange Phase, in der sie als Herstellerin gearbeitet habe. Wie bitte? Herstellerin? Was ist das? Theres Rütschi ist diese Art von Nachfrage gewohnt und erklärt: «Ich habe Buchumschläge gestaltet. Das bedeutet nicht, das Cover zu zeichnen, sondern zu bestimmen, wo das Foto platziert wird, wie breit der Rand ist, wo der Titel steht, welche Farben benutzt werden oder wie die Rückseite des Buchumschlages aussieht.»

Ins Saanenland führte sie schliesslich die Liebe. Ohne grosses Verlagshaus mit hauptsächlich literarischen Editionen konnte sie hier als Herstellerin nicht mehr arbeiten. Es folgten Anstellungen in der Buchhandlung und der Bibliothek, wo sie noch heute Ferienvertretungen übernimmt. Und dann hat sie eben mitten in der Dorfstrasse von Saanen diesen wunderbaren Raum gefunden, der zu ihrem Schaffensreich, zu ihrer «Papierwerkstatt» wurde, wo sie ihre künstlerischen Techniken und ihr Engagement weitergeben kann.

Neugierig, ob es im Leben der Theres Rütschi etwas gibt, was nichts mit Papier zu tun hat, frage ich nach ihren Freizeitbeschäftigungen. Vielleicht macht sie Sport oder arbeitet im Garten? «Mein Steckenpferd sind Comics und Graphic Novels», kommt es wie aus der Pistole geschossen, was mich mittlerweile schon gar nicht mehr verwundert – natürlich, Comics sind ja die perfekte Kombination aus Bild und Text. «Comics hielt ich früher für eine lustige Gattung, oberflächlich und eher für Kinder gemacht, aber dem ist gar nicht so!», relativiert sie. Ich erfahre, dass es auch ernsthafte Erwachsenencomics über Themen wie Behinderung, Heimat oder Nationalsozialismus gibt und bekomme sogleich Beispiele aus der umfangreichen Ateliersbibliothek gezeigt und Lesevorschläge geliefert.

«Und Sport? Naja, einmal die Woche mache ich Yoga, aber ich könnte Kindern zum Beispiel niemals eine Sportart wie Schwimmen beibringen, da wäre ich zu ungeduldig!» Beim Zusammenkleben und Basteln aber kenne ihre Geduld keine Grenzen.

Fast kann ich erahnen, was sie sich für die Zukunft wünscht – ich frage dennoch nach. Und ja, Theres Rütschi ist tatsächlich wunschlos glücklich mit all ihren künstlerischen Aktivitäten und möchte so weiterfahren. Oder nein, vielleicht gibt es doch noch ein paar Wünsche: Sie würde gerne Projekte mit einer befreundeten Schriftstellerin wieder auffrischen, welche Texte schreibt und wozu Theres Rütschi die Zeichnungen liefert, zum Beispiel für das Fumetto Comic-Festival in Luzern.

Oder wieder einmal einen Workshop in der Primarschule anbieten über Grassroot Comics – kleine Comics in vier Bildern –, um die Kinder für Text und Bild zu sensibilisieren. «Oder …»

Den Rest des Ideenreichtums und Enthusiasmus von Theres Rütschi wollen wir uns auf ein anderes Mal aufheben. In ein paar Jahren hat sie sicher noch über mehr spannende Projekte zu berichten – aber relativ sicher haben sie wieder mit Papier, Text und Bild zu tun …!


ZUR PERSON

Nach ihrer Lehre als Verlagsbuchhändlerin beim Diogenes Verlag in Zürich, ein paar Jahren Berufserfahrung und einer kleinen Weltreise hat Theres Rütschi an der Hochschule für Künste in Bern das Studium «Bildende Kunst» abgeschlossen. Da sie ihren weiteren beruflichen Weg nicht in der Kunstszene sah, ging sie als Buchherstellerin und Gestalterin zurück in die Verlagsbranche.

Den Sommer 2006 verbrachte sie bei Huldi und Toni Reichenbach auf der Alp Frischenwert im Turbach als Zusennerin, um dann nach der Heirat mit dem Architekten Hanspeter Reichenbach im Jahr 2007 ganz ins Saanenland zu ziehen. 2007 und 2010 kamen die beiden Töchter Ella und Alice auf die Welt.

SONJA WOLF


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