«Konsequenzen kann man nur tragen, wenn man das nötige Wissen dazu hat»

  31.12.2021 Porträt

Das muss ihm erst einmal einer nachmachen: Markus Bütschi hat fast 45 Jahre in Vollzeit als Krankenpfleger gearbeitet, unter anderem in der Intensivpflege. Sein letztes Jahr vor der Pensionierung war geprägt von Nachtschichten und Covid. Alles andere als einfach, doch ...

SONJA WOLF
«... wenn ich mich noch einmal für einen Beruf entscheiden müsste, würde ich wieder das Gleiche machen.» Zufrieden lehnt sich Markus Bütschi zurück und lächelt vielsagend. Man sieht ihm förmlich an, dass Tausende von positiven Begebenheiten aus seinem Pflegealltag in ihm nachwirken.

Der gebürtige Schönrieder hat nach seiner Lehre als Laborant in Agrobiologie (Pflanzen- und Insektenschutz) relativ bald auf Krankenpflege umgeschwenkt. Nach einer Zusatzausbildung in Intensiv- und später in Anästhesiepflege hat er zunächst einmal viele Jahre lang Patienten vor Operationen anästhesiert. Hat man da überhaupt Kontakt zu den Menschen? – «Ja, klar», lacht er, «bis zu 60 Prozent der Patienten werden ja unter Regionalanästhesie operiert und sind normal ansprechbar. Ich musste mir bisweilen sogar vom operierenden Arzt anhören ‹Der Patient lacht, so geht das nicht! Bütschi, hör sofort auf!›»

Einspringen für die Kollegen
Lustig ging es natürlich in seinem Beruf nicht immer zu, doch der dreifache Familienvater kam gut mit der Situation zurecht. Einige Kollegen hatten Mühe mit dem ständig wechselnden Schichtbetrieb – der unregelmässige Schlafrhythmus nagte an ihrer Gesundheit. Nicht so bei Bütschi: «Ich konnte sonntags um 9 Uhr morgens müde von der Nachtschicht nach Hause kommen und auf dem Sofa einschlafen, während die Kinder um mich herumsprangen und spielten.»

Aber man hört doch immer von schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen – wollte Anästhesiepfleger Bütschi seinen Beruf niemals an den Nagel hängen? – «Nein, nie. Ich hatte zwar einen Freund, der mir sagte: ‹Für deinen Lohn würde ich morgens nicht einmal aufstehen!› Aber ich war zufrieden. Ich bin davon überzeugt, dass man das erlernen soll, was einem Spass macht und einen erfüllt. Der Lohn sollte zwar angemessen, aber niemals das Auswahlkriterium sein.»

Das Hauptproblem im Pflegesektor ist nach Bütschis Erfahrung, dass es permanent zu wenig Personal gibt. «Wenn jemand ausfiel, musste man einspringen und Schichten übernehmen, das heisst, man war dauerbelastet.» Eine weitere Folge der Personalknappheit sei auch, dass ständig Betten reduziert werden mussten. Für Bütschi sei die Pflegeinitiative, über die im vergangenen November abgestimmt wurde, hilfreich, aber etwa 30 Jahre zu spät gekommen.

Intensiver Abschluss der Karriere
Nach vielen Jahren als team- oder abteilungsleitender Anästhesiepfleger – später hiess es Pflegeexperte HF NDS Anästhesie – ist er im Mai 2020 wieder in die Intensivpflege gewechselt, nicht ahnend, wie heftig die zweite Coronawelle die Schweiz noch überrollen würde. In der Retrospektive gibt er zu: «Das war das Schlimmste, was ich in meiner beruflichen Karriere erlebt habe.» Trotz seiner sehr hohen Toleranzschwelle hat er grosse Mühe, zum Teil sogar Unverständnis für Coronamassnahmenkritiker oder Impfskeptiker und ihre fehlende Solidarität. «Konsequenzen kann man nur tragen, wenn man das nötige Wissen dazu hat!», wiederholt er an mehreren Stellen im Gespräch. «Und wer das nicht selbst mitgemacht hat auf einer Intensivstation, hat keine Ahnung.» Allen Zweiflern empfehle er, einmal einen Tag auf der IPS mitzulaufen, selbstverständlich ohne Schutzmassnahmen.

Am meisten habe ihn mitgenommen, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Covid-Patienten häufig so schnell gehe. Die Einrichtungszeit nach der Verlegung auf die Intensivstation betrage etwa ein bis zwei Stunden, das heisst, die Angehörigen konnten den Patienten häufig gar nicht mehr sehen und sich – schlimmstenfalls – nicht einmal mehr von ihm verabschieden.

Selbsternannte Experten
Nicht nur alte, vorerkrankte oder über 100 kg schwere Menschen habe er auf den Bauch drehen müssen, er erinnert sich auch an die intubierte sportliche, kerngesunde Person mit Jahrgang 1970, die genau gleich schlecht dran war, und andere Beispiele, die sich in sein Gehirn eingebrannt haben. «Und dennoch glauben so viele Menschen wie nie zuvor, dass sie Experten im Zusammenhang mit der Pandemie sind.»

Ratlos ist er auch bezüglich der Impfung, was einige Menschen davon abhalte: «Die Nebenwirkungen sind so gut erforscht, die Impfung wurde bereits bei Milliarden von Menschen getestet. Ich kenne keine logischen Gründe, warum sich Menschen nicht impfen lassen.» Keine der Nebenwirkungen sei auch nur halb so schlimm wie die Krankheit selbst, die er Tag für Tag auf der Intensivstation zu bekämpfen geholfen habe. Oder eher Nacht für Nacht. Denn gegen Ende seines Berufslebens hatte er sein Auto bereits abgegeben. Mit der Zugverbindung von seinem Wohnort Ulrichen nach Visp hätte er nicht rechtzeitig zur Frühschicht ankommen können und so hat er freiwillig nur noch den Nachtdienst gemacht.

Intensivpflege in der Pandemie in Dauernachtschicht – und immer noch rundum zufrieden lächelnd. Der Beruf als Berufung, man kann es bei Markus Bütschi kaum anders bezeichnen.

Gute und weniger gute Pflegedirektoren
Neben den Coronafällen gab es natürlich auch die normalen Einweisungen. Das Spital in Visp war – wie so viele andere Schweizer Spitäler in der letzten Zeit – gut ausgelastet: die Intensivstation voll, das Personal mehr als ausgelastet. Ein Operationssaal wurde zum Aufwachraum umfunktioniert, Unfallopfer von den Pisten wurden regelmässig bis in die Morgenstunden operiert.

Bei einem so regen und stressigen Betrieb war für Markus Bütschi das A und O für einen reibungslosen Ablauf das Miteinander im Team und die Solidarität mit den Kollegen. Aber auch die Vorgesetzten sollten seiner Meinung nach zu den Mitarbeitenden Sorge tragen und ihnen Wertschätzung entgegenbringen. «In meiner Laufbahn habe ich sogenannte ‹Pflegedirektoren› erlebt, die ich in sechs Monaten nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen habe.» Aber auch sehr vorbildhafte, die Wunschpläne erstellt haben, in welche die Mitarbeitenden ihre Ferien und Wochenenddienste frühzeitig eintragen konnten. «Für Mütter mit Kindern eine Wohltat, weil sie auf eine feste Planung angewiesen waren», sagt er.

In 45 Jahren hat sich einiges verändert…
Gerne erinnert sich der Pfleger an frühere Zeiten, als man ein Narkosegerät noch öffnen und hineinschauen konnte, wenn mal etwas nicht funktionierte. «Heute ist das natürlich unmöglich, alles ist hightech und sicher nicht beeinflussbar!»

Aber nicht nur bei den Maschinen hat sich einiges getan. Auch die Einstellung zum Tod sei heute anders. Bei einigen besonders schwerwiegenden Fällen hätte man seinerzeit nicht mehr operiert, sondern den Menschen gehen lassen. «Heute ist das anders, es werden einfach alle operiert», sagt Bütschi nachdenklich.

Ein grosser Wunsch bleibt für ihn nach all den Jahren: «Weg vom ‹iech, iech, iech› und wieder hin zum grossen ‹WIER›!»


ZUR PERSON

Markus Bütschis Vater war Schönrieder, seine Mutter stammte aus Oberwil im Simmental. Er selbst hat bis zu seinem 15. Lebensjahr in Schönried gewohnt, und zwar mit vier Geschwistern: Daniel (heute Saanen), Bernhard (heute Schönried), Annemarie (heute Boltigen) und Andreas (heute Stocken/Reutigen). Die Lehre hat er in Basel absolviert, später hat er viele Jahre in Bern gelebt und wohnt momentan in Ulrichen im Wallis. Er hat sehr früh geheiratet, im Alter von 24 Jahren hatten er und seine Frau – ein ehemaliges Verdingkind – bereits drei Kinder. Inzwischen sind drei Enkelkinder und ein Urenkel dazugekommen. Im Sommer ist er regelmässig im Saanenland, um seinem Bruder Bernhard und der Schwägerin Hedi am Berg beim «Holz schiide» und beim Heuen zu helfen. Früher hat er Sport getrieben, vor allem Langlauf, und viel auf der Trompete sowie dem Kornett musiziert. Er war unter anderem eines der Gründungsmitglieder von der Brass Band Berner Oberland. Seit er pensioniert ist, liest er viel, töpfert, hütet die Enkel und ist im Winter immer noch viel auf der Loipe anzutreffen.

SONJA WOLF


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