Auszug aus der Festrede von Roman Gimmel, Verwaltungsdirektor der Gemeinde Saanen

  03.08.2022 Gemeinde

(...) Wir dürfen heute 731 Jahre Schweiz feiern. So lange besteht die Confoederatio Helvetica, abgekürzt CH. Le CH, que nous voyons, avec des lettres capitales, comme autocollant à l’arrière de nos voitures. And the CH that we read, in lowercase letters, at the end of an internet address.

Wir dürfen heute stolz sein. Auf uns. Auf unsere Vorfahren. 731 Jahre sind schliesslich kein Pappenstiel. Ich will heute nicht geschichtslektionenmässig auf unsere äusserst interessante und spannende Schweizer Geschichte eingehen, obschon sich dies natürlich gerade am Nationalfeiertag bestens anbieten würde. Grob zusammengefasst halte ich einfach fest: Schmerz vergeht, Stolz bleibt! (...)

Der 1. August sollte uns alljährlich in Erinnerung rufen, was wir effektiv feiern dürfen: Sicherheit, Freiheit, Selbstbestimmung, direkte Demokratie. Direkte Demokratie? Ist das ein Grund zum Feiern? Unbedingt, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung von diesem Privileg, direkt demokratisch Einfluss nehmen zu können, nicht Gebrauch macht.

Unser weltweit einzigartiges staatspolitisches System würden beispielsweise deutsche Staatsbürger, mit denen ich im Gespräch war, liebend gerne übernehmen. Ob wir aufgrund zu hoher Abstinenz bei Wahlen und Abstimmungen dereinst einen Systemwechsel vornehmen müssen und alternativ beispielsweise zum Verlosen von Sitzen in Räten übergehen werden, wird sich zeigen. Abstimmen und Wählen sind heute Rechte des Bürgers. Sollten es gescheiter Pflichten sein? Wie auch immer: Auch in Zukunft muss sich sowohl der Wählende wie auch die Kandidierende fragen: Zählt das Erreichte oder reicht das Erzählte?(...)

Wo stehen wir denn eigentlich im Jahre 2022? Leben wir in einem Land, in dem Milch und Honig fliessen? Von aussen her angeschaut, mag dieses weit verbreitete Attribut zutreffen. Von innen her angeschaut, drücken die eng zusammengepferchten Minen der Montag-Morgen-Pendler im Zug nach Bern in der zweiten Klasse hingegen etwas ganz anderes aus. Die erbosten Online-Kommentare in gewissen Foren zu aktuellen Geschehnissen zeugen von einer immensen, wenn auch subjektiven Unzufriedenheit.

Ohne dieser unterschiedlichen Aussen- und Innenbetrachtung auf den Grund gehen zu wollen, liegt die Schweiz in der Hitparade der innovationsfreudigsten Länder Jahr für Jahr auf einem der vordersten Plätze. (...) Innovationskraft geht Hand in Hand mit Agilität. Wir müssen, um innovativ zu bleiben, auch in Zukunft agil sein. Das sind wir, wenn wir Lernende bleiben. Damit meine ich tatsächlich Lernende und nicht etwa Lern-Ende. Denn lebenslanges Lernen erhält nicht nur geistig jung, sondern hilft auch, wach zu bleiben. Und das nicht nur bei technischen Entwicklungen wie immer neuen Applikationen auf dem Handy oder immer moderneren Vernetzungsmöglichkeiten, sondern auch bei ganz normalen, zwischenmenschlichen Kommunikationsarten. (...)

Werfen wir einen kurzen Blick in die Glaskugel. Wie sieht die Schweiz in 20 Jahren aus? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es auf diese klare Frage eine klare Antwort: Wir wissen es nicht. Ausblicke sind nämlich immer sehr schwierig, insbesondere dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Megatrends wie die Globalisierung oder die Digitalisierung sind zwar erkennbar, ebenso die Individualisierung. Wobei es auch im Zeitalter des «Ich-Hier-Jetzt» kollektive Vorstellungen gibt. Beispiel gefällig? Alle wollen alt werden, aber niemand will es sein.

Ein weiterer Widerspruch betrifft – leider wohl auch in naher Zukunft – die Überreglementierung. Alle sträuben sich zwar vehement dagegen, dass immer alles reglementiert wird und trotzdem findet genau das immer dichter in allen Lebensbereichen statt. Auf einmal müssen sogar die Gummiboote auf der Aare mit Namen und Adresse gekennzeichnet werden. Dafür darf in genau diesen Gummibooten auf genau dieser Aare wieder grenzenlos Alkohol getrunken werden. Da hat sich vermutlich wieder mal einer gefragt: Warum einfach, wenns kompliziert auch geht?

Schaffen wir doch einfach wieder nach den beiden Geboten der Effektivität (die richtigen Sachen machen) und der Effizienz (die Sachen richtig machen). (...)

Ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, eine Abkürzung geniesst hoffentlich ewige Gültigkeit: GMV – gesunder Menschenverstand. Er sei zwar nicht überall gleichermassen ausgeprägt, sagen sowohl die einen als auch die anderen, trotzdem sagt er einem immer wieder: In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.

Nach dem Gratulieren kommen nun die guten Wünsche (...):
• Gesundheit (Obschon wir wissen: Wer gesund ist, hat dutzende Probleme. Wer krank ist, nur eines.)
• Glück (Denn: Tu fac tua fortuna. Jeder ist seines Glückes Schmied.)
• Gelassenheit (Im Sinne von: Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.)
• Geduld (Sie führt zu Erkenntnissen: Die Wartezeit, die man bei Ärzten verbringt, würde in den meisten Fällen ausreichen, um selbst Medizin zu studieren.)
Und nach den Wünschen kommen schliesslich die Hoffnungen. Hoffen wir weiterhin auf:
• eine gesellschaftliche Wohlfahrt (die durchschnittliche Lebenserwartung ist heute so hoch wie noch nie)
• auf einen weiterhin allgemein hohen Wohlstand (er ist heute so hoch, dass man hier und da bereits von Wohlstandsverwahrlosung reden muss)
Kurz: Hoffen wir auf ein gemeinschaftliches Wohlergehen.

Hoffen wir, dass sich bewährte, Erfolg versprechende Tugenden auszahlen. Tugenden wie:
• Fleiss (wer ernten will, muss säen)
• Eigeninitiative (jeder ist seines Glückes Schmied)
• Eigenverantwortung (wer mich ärgert, bestimme ich)
• Pünktlichkeit (Busse warten nicht)
• Höflichkeit (grüssen kostet nichts)
• Ausdauer (umfallen ist erlaubt, aufstehen Pflicht) oder
• Qualität (Qualität ist, wenn der Kunde zurückkommt und nicht das Produkt.). (...)
Also, bringen wir es auf den Punkt. Ich hoffe, dass es uns auch künftig gelingt, privat und beruflich: Lieber ungefähr richtig, als exakt falsch zu handeln. Lieber unvollkommen anpacken, als perfekt zögern! Angereichert mit einer positiven, konstruktiven Grundhaltung müsste sich eigentlich flächendeckend die Überzeugung einstellen: Es gibt keine Probleme, es gibt lediglich Herausforderungen. (...)


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