Den Scherenschnitt als die Poesie der Symmetrie gefeiert
11.07.2023 NachbarschaftChâteau-d’Oex richtete am vergangenen Wochenende bei strahlendem Wetter eine Festfeier des Scherenschnittes aus. Nicht nur waren die Werke von über 40 – vor allem Schweizer – Scherenschnittkünstler:innen zu bewundern, sondern auch eine ...
Château-d’Oex richtete am vergangenen Wochenende bei strahlendem Wetter eine Festfeier des Scherenschnittes aus. Nicht nur waren die Werke von über 40 – vor allem Schweizer – Scherenschnittkünstler:innen zu bewundern, sondern auch eine über den Ort verteilte Ausstellung zum Thema «Durch die Zeiten» mit 25 grossformatigen Scherenschnitt-Reproduktionen.
ULRICH RÜGER
Der Scherenschnitt spricht für sich. Auch wenn er vielleicht nicht alle anspricht, wird er von vielen Sammler:innen umso mehr geliebt. Von Natur aus ist der Scherenschnitt symmetrisch, doch ist die Natur auch symmetrisch? Wofür die Natur sicher keine Vorliebe hat, sind die Farben schwarz und weiss. Deswegen heissen sie genau genommen nicht Farben, sondern Kontraste. Der stärkste Kontrast ist der zwischen schwarz und weiss: Das ist das Reich des Scherenschnittes. Ein Reich errichtet mit einer mikroskopischen und chirurgischen Präzision und einer scheinbar unmenschlichen Geduld.
«Geduld», erzählte einer der hoffnungsvollsten Talente des Scherenschnittes, der aus Zweisimmen stammende Marc Schweizer, sei nicht das zentrale Element. «Die Leute glauben immer, was ich für den Scherenschnitt brauche, ist Geduld, aber was ich für den Scherenschnitt brauche, ist Leidenschaft», so Schweizer am siebten Scherenschnitt-Tag in Château-d’Oex. Der ausgebildete Architekt verbindet traditionelle Motive mit einem aufregenden Bildaufbau und einem innovativen Ausdruck. «Kunst», sagt Marc Schweizer, «ist Ausdruck und der wird in meinen Bildern geschaffen.»
Der Stand seiner Kollegin Christine Müller-Teuscher stand in nächster Nachbarschaft im Grand Salle. Die hohe lichtdurchflutete Halle zeigte nicht nur eine verblüffende Vielfalt an verschiedenen Motiven und Techniken. Interessierte Besuchende konnten auf der Empore auch selbst zur Schere greifen und unter Anleitung ihr eigenes Bild schaffen. Die Scherenschnittkünstlerin und ehemalige Wirtin Christine Müller-Teuscher hat sich den Scherenschnitt selbst beigebracht. Als zweitjüngstes von sieben Kindern wuchs sie auf einem Bergbauernheimetli auf und fühlte sich schon als Kind zu Farben, Pinseln und Basteleien hingezogen. Auf die Frage, ob ein Scherenschnitt eher Arbeit oder Entspannung für sie sei, antwortete sie: «Ce sont des vacances.» Noch um vier Uhr morgens hält sie die Lust am Scherenschneiden wach, wie sie erzählt. Sie lächelte über das ganze Gesicht, während sie davon sprach, wie ihr die Liebe zum Scherenschnitt als Quelle von Lebensfreude diente, dies zum Ausgleich für eine anstrengende Arbeit als Wirtin. Ihre Arbeiten sind gegenwärtig nicht nur in ihrer Wohnung in Zweisimmen zu sehen, sondern auch im ersten Stock des Restaurants Landhaus in Saanen.
Der Stand der kommerziell erfolgreichsten Künstlerin des Saanenlandes Regina Martin befand sich in der Unterführung beim Bahnhof. Es war verblüffend, wie viel Leben die Scherenschnittkünstler:innen in die Unterführung brachten und diese in ein spannendes Erlebnis verwandelten. Regina Martin arbeitet seit 40 Jahren als Scherenschnittkünstlerin im Saanenland und hat Kundinnen und Kunden auf der ganzen Welt. Schnitt für Schnitt ist Regina Martin unterwegs zum vollkommenen Werk. Als langjährige Präsidentin des Vereins Scherenschnitt Schweiz hat sie sich für eine moderne und vielseitige Scherenschnittszene eingesetzt.
Der Röstigraben ist nicht «zerschnitten»
Die Scherenschnittkünstler:innen lobten übereinstimmend die Atmosphäre, die Qualität der Arbeiten und den Erfolg beim Publikum in Château-d’Oex. Die ungezählten Stunden der Hingabe an das widerständige Material, das mit der Schere bezwungen werden will, verbindet. Von einem Röstigraben wollte keiner der Künstler:innen etwas wissen. Das Saanenland und das Paysd’Enhaut sind sich in der Liebe zum Scherenschnitt einig.
Eine grosse Familie
Die Gemeinde der Scherenscheider sieht sich als grosse Familie. Wenn der Ausdruck grosse Familie eher ungebräuchlich geworden ist, könnte das darin liegen, dass er so etwas wie der Inbegriff von «Tradition» ist. Was den Scherenschnitt am Leben hält, sind seine Wurzeln in der Tradition. Seine Faszination liegt darin, dass aus schwarzen Formen, geschnitten mit dem profanen Instrument Schere, zarte Gebilde entstehen: Gebilde, die traditionelle Motive zu immer neuem Leben erwecken. Zeitlos ist, was lebendig bleibt und wie lebendig der Scherenschnitt ist, zeigte diese Veranstaltung, die mehr wie ein Fest wirkte als eine Ausstellung.