Drei Landeskirchen, sieben Freikirchen und eine Sekte für 8683 Personen

  31.05.2022 Serie

Die Kirchenlandschaft Saanenland ist vielfältig. Elf Glaubensgemeinschaften gibt es für eine Bevölkerung von total 8683 Personen. Eine grosse Auswahl. Welchen Stellenwert haben die Landeskirchen im Saanenland und ist es eine Hochburg für Freikirchen?

BLANCA BURRI
Wurden Sie im Small Talk je auf das Thema Religion angesprochen? Wohl kaum, denn im Knigge steht, Religion sei kein Thema für unverfängliche Gespräche. Das heisst jedoch nicht, sich nicht mehr darüber zu unterhalten, im Gegenteil, in der multikulturellen und multireligiösen Gegenwart ist der Austausch wichtiger denn je.

Der Begriff Religion wird im Duden etwas umständlich beschrieben: «Meist von einer grösseren Gemeinschaft angenommener bestimmter, durch Lehre und Satzungen festgelegter Glaube und sein Bekenntnis.» Kurz: eine Glaubensgemeinschaft. Als Beispiele gelten die buddhistische, christliche, jüdische und muslimische Religion. Im Saanenland sind elf Glaubensgemeinschaften bekannt. Fast alle, nämlich zehn, gründen auf dem christlichen Fundament. Eine Gemeinschaft, die Zeugen Jehovas, ist gemäss der kirchenhistorischen Konfessionskunde eine Sekte.

80 Prozent sind reformiert oder römischkatholisch
Im Saanenland sind zwei der drei Landeskirchen ansässig: römisch-katholisch und reformiert. Die evangelischreformierte Kirche hat Standorte in Saanen, Abländschen, Gstaad, Gsteig und Lauenen. Die römisch-katholische Kirche steht in Gstaad. 80 Prozent der Saaner Bürger sind Teil dieser beiden Landeskirchen, der Prozentsatz ist deutlich höher als der Schweizer Durchschnitt. Dass dieser Prozentsatz 27 Prozent höher liegt, ist laut Professor Martin Sallmann von der Universität Bern normal: «Die Kirchen haben auf dem Land einen grösseren Stellenwert als in der Stadt.»

Im Saanenland sind die Katholiken in der Minderheit, aber immerhin jede fünfte Person ist katholisch, vor allem Gastarbeiter aus dem Süden. 57,5 Prozent der Bewohner sind reformiert. Im Vergleich dazu: Die Schweizer Bevölkerung ist zu 35 Prozent katholisch und 23 Prozent reformiert. Seit 1970 sind diese Werte drastisch gesunken. Die römisch-katholische Kirche verlor 12 Prozent der Mitglieder, die reformierten gar 26 Prozent!

5,4 Prozent der Saaner in Freikirchen
Obwohl vier von fünf Saanern einer Landeskirche angehören, gibt es im Saanenland zusätzlich noch sieben Freikirchen. Einige Gemeinschaften sind verschwindend klein. Bei der Heilsarmee kann man die Mitglieder beispielsweise an zwei Händen abzählen. Andere Kirchen erreichen eine beachtliche Grösse von bis zu 102 Mitgliedern. Wie die Umfrage zeigt, gehören mehr als 471 Personen einer Freikirche an. Der Anteil der Freikirchler liegt also bei 5,4 Prozent der Bevölkerung. Der Wert liegt somit dreieinhalb Mal höher als der schweizerische Durchschnitt von 1,5 Prozent. Es ist möglich, in einer Landeskirche und in einer Freikirche Mitglied zu sein. Wie viele Doppelkirchenbürger es im Saanenland gibt, ist nicht bekannt. Sowohl das Christliche Begegnungszentrum Gstaad (CBZ), die Heilsarmee als auch das Evangelische Gemeinschaftswerk Bezirk Gstaad (EGW) geben an, dass die Mitglieder auch Teil der Reformierten sind.

Freikirchenhochburg Saanenland
Professor Sallmann setzt sich an der Theologischen Fakultät in Bern mit der Neueren Geschichte des Christentums und der Konfessionskunde auseinander. Auf die Frage, ob die Höhe von sieben Freikirchen in einer Gegend mit nur 8683 Bewohnern viel sei, sagt er: «Es ist bekannt, dass im Emmental, in Frutigen und eben auch im Saanenland im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte besonders viele Freikirchen angesiedelt sind.» Weshalb das im Saanenland so ist, kann er nicht abschliessend erklären. Auf dem Land konnten sich nonkonforme Gemeinschaften besser verbreiten.

Einen geschichtlichen Einblick gibt Martin Sallmann im Emmental. Dort seien die Täufer bereits im 16. Jahrhundert weit weg von der Aufsicht der städtischen Obrigkeit präsent gewesen. «Damals galten in den etablierten Kirchen gewisse Vorgaben wie etwa der Besuch des Sonntagsgottesdienstes als Bürgerpflicht», erklärt Sallmann. In den Städten sei die Aufsicht besonders streng und die Bürger stetiger Sozialkontrolle unterworfen gewesen. Auf dem Land habe man sich der Kontrolle leichter entziehen können und weniger Repressalien befürchten müssen. Deshalb hätten sich freikirchliche Kreise auf dem Land besser entwickelt als in der Stadt, so vielleicht auch im Saanenland. Sallmann fügt an, dass man sich vergegenwärtigen müsse, dass die freie, persönliche Religionswahl, wie wir sie heute kennen, damals noch nicht möglich war. «Als die ersten Freikirchen im 19. Jahrhundert gegründet wurden, war die freie Religionswahl eine grosse Errungenschaft.»

Freikirchen haben nicht von Austritten aus den Landeskirchen profitiert
Heute sind viele Freikirchen für ihre mitreissende Jugendarbeit, für Worship-Konzerte im Popformat, für Fröhlichkeit und seliges Strahlen bekannt. Weil die etablierten Kirchen massenweise Austritte verzeichnen, könnte man annehmen, dass die nach aussen modern wirkenden Freikirchen grossen Zulauf haben. Dem ist aber nicht so. Martin Sallmann: «Die Freikirchen blieben auf einer stabilen Höhe zwischen 2 und 2,5 Prozent der Bevölkerung.» Die Menschen, die aus der Kirche austreten, seien nicht plötzlich anders religiös oder areligiös, erklärt er. Ihr Motiv liege vielmehr darin, dass sie der Institution Kirche nicht mehr angehören möchten. Was eher beobachtet wird, ist, dass freikirchliche Gemeinschaften sich gegenseitig die Mitglieder streitig machen. Auch im Saanenland. Beispielsweise hat sich die Möser Church vor 20 Jahren von der EMK abgespaltet. Heute, so sagen Szenenkenner, stecke die Möser Church in der Krise. Das geht vielen Freikirchen nach der ersten Euphorie so, wenn in der Kirchenleitung der erste Generationenwechsel ansteht oder wenn der Gesellschaftswandel neue Formen des religiösen Lebens verlangt.

Von privater Gruppe bis öffentlich rechtlich
Nicht nur in Glaubensfragen ist es interessant, hinter den Kirchenaltar zu schauen. Kirchen sind unterschiedlich organisiert. Die Landeskirchen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ihre Aktivitäten und Zahlen können jederzeit eingesehen werden. Anders sieht es bei den freikirchlichen Gruppierungen aus, die in der Regel privatrechtlich organisiert sind. Die Saaner Religionsgemeinschaften bilden eine breite Organisationslandschaft ab. Die Christliche Versammlung beispielsweise ist eine private Gruppe, in der die leitenden Personen über die letzte Entscheidungsbefugnis verfügen. Die Sekte Jehovas Zeugen hingegen ist als Non-Profit-Organisation registriert. Sie schreibt: «Die leitende Körperschaft als oberstes geistliches Gremium hat die letzte Entscheidungsbefugnis.»

Das EGW und die Möser Church hingegen sind Vereine mit Statuten, Vorstand und Hauptversammlung. Das letzte Wort hat die Hauptversammlung, an der alle Mitglieder über wichtige Geschäfte entscheiden. Die Mitglieder haben ein Antragsrecht und folglich eine abschliessende Mitgestaltungs- und Entscheidungskompetenz.

Wie sieht es mit der Finanzierung aus?
Die Einkünfte der Landeskirchen sind klar über den von den Kirchgemeindeversammlungen festgesetzten Steuersatz geregelt. Das Eintreiben der Steuern obliegt im Kanton Bern aber der Steuerbehörde. Sie gibt nach dem Abzug eines Administrationsbeitrags einen Teil an die Landeskirchen und den anderen grösseren Teil an die Kirchgemeinden weiter. Die Landeskirche ist für die Anstellung der Pfarrer und Pfarrerinnen sowie deren Entlohnung zuständig, die Kirchgemeinden hingegen für alle weiteren Mitarbeitenden wie die Jugendarbeiter:innen, die Katechetinnen und Katecheten oder das Sekretariat.

Freikirchen durch Spenden finanziert
Im freikirchlichen Umfeld hört man oft den Begriff «Zehnter». Damit ist die Abgabe des zehnten Teils des Einkommens gemeint, der seinen Ursprung im Alten Testament hat. Damit wurde in der Antike die Finanzierung des religiösen Lebens sichergestellt sowie Randständige, aber auch Waisen, Witwen und Ausländer unterstützt. Heute finanzieren sich die Freikirchen im Saanenland durch freiwillige Spenden. Wie hoch die Abgaben pro Person sind, konnte nicht eruiert werden.

Die Kircheneinkünfte werden wie bei den Landeskirchen für die Infrastruktur, das kirchliche Leben sowie für private Projekte im Ausland verwendet. Bei den Freikirchen beziehen aber nicht alle Prediger einen fixen Lohn, da einige Laienprediger freiwillig arbeiten. Während die Freikirchen die Höhe und die Verwendung ihres Budgets gegenüber dieser Zeitung offenlegen, machen die Zeugen Jehovas dazu keine Angaben. Sie schreiben: «Die Mittel fliessen in die Förderung der religiösen und humanitären Aktivitäten unserer Organisation.» Zusammenfassend kann man sagen, dass die Finanzen der Landeskirchen und der Heilsarmee jederzeit von jeder x-beliebigen Person geprüft werden kann. Bei den Freikirchen bleibt dieses Privileg den Vereinsmitgliedern vorbehalten.

Was wird von den Gläubigen erwartet?
Unsere Grossmütter und Grossväter hatten noch die sogenannte Sonntagspflicht, vor allem im katholischen Religionsraum. Das heisst: Am Sonntag hatte man die Messe zu besuchen. In der heutigen Zeit wäre das undenkbar. Pfarrer Alexander Pasalidi von der römisch-katholischen Kirche Gstaad schreibt zu seinen Erwartungen an die Mitglieder: «Als Pfarrer habe ich keine Erwartung. Mündige Christen entscheiden selbst, wie viel Raum sie der persönlichen Beziehung zu Gott geben wollen und können.»

Auch die andere Landeskirche und erstaunlicherweise sogar die Freikirchen geben an, dass bei ihnen keine Präsenzpflicht herrscht. Für viele ist die Zugehörigkeit zu einer Freikirche jedoch ein bewusster Entscheid, um die Beziehung zu Gott und zu Gleichdenkenden zu pflegen. Deshalb sind viele Freikirchler von sich aus viel aktiver als die Landeskirchenchristen. Das hat auch mit der Grösse der Gemeinschaften zu tun. In den überschaubaren Freikirchen kennt man einander, hat eine persönliche Beziehung zueinander, gestaltet selbst mit, denn die meisten Aktivitäten werden von Freiwilligen angeboten, und man verbringt auch die Freizeit miteinander. Es ist also ein grosses Miteinander. Ein grosser Unterschied beispielsweise zur reformierten Kirche, die viel loser und ohne Verbindlichkeiten organisiert ist.

Die Fakten basieren auf einer Umfrage des «Anzeigers von Saanen» bei den Kirchen im Saanenland, dem Gespräch mit Prof. Dr. Martin Sallmann, Universität Bern, dem Bundesamt für Statistiken sowie dem Buch «Phänomen Freikirche» von den vier Religionswissenschaftlern Jörg Stolz, Olivier Favre, Caroline Gachet und Emmanuelle Buchard.


Im Austausch bleiben

BLANCA BURRI
Die muslimisch motivierten Anschläge im vergangenen Jahrzehnt hatten Europa in Aufruhr versetzt und die Gesellschaft gezwungen, über den Glauben nachzudenken. Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannte sich zum Christentum und forderte dies auch von der westlichen Gesellschaft. Inzwischen ist die Auseinandersetzung mit der Religion in den Hintergrund geraten. Sie wurde überlagert von der Klimakatastrophe, Covid-19 und nun vom Angriffskrieg der Russen. Das ist aber kein Grund, sich nicht mehr mit dem Glauben auseinanderzusetzen.

Sich im Gespräch mit Gleichdenkenden über das eigene Verständnis klar zu werden. Oder aber mit Andersdenkenden zu streiten und sich zu reiben an ethischen und kirchenrechtlichen Fragen. Beispielsweise an der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare oder am Zölibat in der katholischen Kirche. Gibt es Gott? Weshalb oder eben weshalb nicht? Der Diskurs ist in einer Konsensgesellschaft nicht leicht. Lieber möchten wir unserem Gegenüber zustimmen, als uns der eigenen Werte bewusst zu werden und dafür einzustehen. Auch wenn wir Schweizer keine «Debattier-DNA» besitzen, erweitern wir im Diskurs unseren Horizont und entdecken bisweilen Ungeahntes.

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