Durch und durch Unternehmer
15.02.2024 PorträtDas Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Heute schauen wir Fabio Carlucci über die ...
Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Heute schauen wir Fabio Carlucci über die Schulter, der sich in Berlin ein Business mit fermentiertem Tee aufgebaut hat.
SONJA WOLF
Fabio Carluccis Welt ist der Kombucha. Kombucha mit Ingwer, Kombucha mit Himbeere, Kombucha mit Kaffee. Carlucci geht ganz in seiner Kombucha-Welt auf und produziert das Trendgetränk mit viel Herzblut. Zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, fast ohne Ferien. Denn Fabio ist durch und durch Unternehmer. Mit seinen gerade mal 34 Jahren ist die Kombucha-Firma bereits sein drittes Unternehmen – und läuft rund.
Erste Brau- und Abfüllversuche in der WG. (FOTOS: ZVG)
Student und Unternehmer
Das unternehmerische Risiko reizte Fabio Carlucci schon sehr früh. «Ich fand so ein vorbestimmtes Leben mit all seiner Sicherheit immer beängstigend», sagt der Saaner mit einem Schmunzeln. Mit Anfang 19 war er mit seiner KV-Lehre fertig und fand die Aussicht auf einen geregelten Bürojob, Haus, Auto und Kinder zunächst einmal nicht sehr erstrebenswert.
Daher packte er die Berufsmatur inklusive Passerelle an, begann mit 21 Jahren in St. Gallen BWL zu studieren und gründete noch während des Studiums mit drei Mitstudierenden sein erstes Start-up. Entstanden war es aus einem Projekt des Instituts für Wirtschaftsinformatik seiner Universität, welche für das Projekt über Crowdfunding rund 100’000 Franken zusammensammelte. Dann begann das Team sprichwörtlich auf der «grünen Wiese». Die Geschäftsidee: ein soziales Netzwerk, das ähnlich wie die Kenntnisbestätigungen auf dem beruflichen Netzwerk LinkedIn funktionierte, «aber wir hatten das schon, bevor es diese LinkedIn endorsements (Kenntnisbestätigungen, Anm. d. Red.) gab», so Carlucci. In der Praxis bedeutete das: Die Nutzer konnten sich ein berufliches Profil erstellen, das auf der Sicht der Aussenstehenden beruhte, nicht auf deren Eigeninterpretation. Eigentlich eine clevere Idee für ein objektives Headhuntig, doch stieg Carlucci nach zweieinhalb Jahren aus. «Ich war 22 und extravertiert, die anderen im Team eher an die 30. Es hat einfach nicht mehr so gepasst.»
Inspirierende Challenges übers Netz
Doch Fabio Carlucci hatte das Gründerfieber gepackt. Zusammen mit seinem älteren Bruder Danilo gründete er mit knapp 24 Jahren die nächste Firma, wieder eine soziale Plattform, mit dem Namen amazers.com. «Wir haben Persönlichkeiten interviewt – heute würde man sie Influencer nennen –, die Bedeutendes und Inspirierendes erreicht haben, z.B. Bertrand Piccard mit seinem Lebensmotto ‹impossible is nothing›», erklärt er das Prinzip. «Mit diesen Persönlichkeiten haben wir Challenges kreiert, welche die Fancommunity annehmen konnte, um das Lebensmotto der Persönlichkeit umzusetzen.» Ihre Umsetzungen konnten die Fans dann in Text und Videos über die Amazers-Plattform einreichen.
Diese Idee fanden in der Folge auch Firmen recht ansprechend und so entstand neben der eigenen Plattform eine Software dazu. So konnten Marken ihre eigene Challenges lancieren und ihre Communities bespielen.
Trotz Gelder von Investoren mussten die Brüder Amazers allerdings 2016 schliessen, weil das Konzept wirtschaftlich nicht funktionierte. Carlucci: «Ich glaube, wir waren einfach ein bisschen zu früh mit der Idee.» Einige Jahre später übrigens kamen andere soziale Netzwerke mit allen möglichen Arten von Challenges auf und auch Firmen erkannten die Marketingbedeutung solcher Plattformen.
Warum Berlin?
Schon mit seiner Unternehmensidee Amazers hatte sich Fabio Carlucci in Berlin angesiedelt – und sollte dort auch weiterhin bleiben. Warum gerade Berlin? «Berlin ist die Start-up-Hauptstadt Europas. Berlin ist cool, hat kreative Leute, Investoren, Netzwerke, Events – alles, was man braucht als junger Unternehmer», sagt Carlucci überzeugt. Einen ganz praktischen Grund gebe es ausserdem auch noch: Mit 10’000 Franken Erspartem könne man in Berlin fast ein Jahr lang auskommen, in der Schweiz dagegen nur ein paar Monate.
Aber nach der Aufgabe von Amazers reiste Carlucci erst einmal für sechs Monate als Backpacker durch Südostasien, bevor er sich wieder in Berlin niederliess, um als Freelancer verschiedene Marketingjobs zu machen. Aber er wusste: Angestellt zu sein, auch nur als Freelancer, war nicht sein Ding. Es war nur etwas zum Geldverdienen, «bis ich die nächste Idee bekomme, um wieder etwas zu gründen.»
Noch Fragen, worum es im Leben des Saaner Jungunternehmers geht? Die Bubbles auf den Dosen erinnern übrigens an Popart, passend zum Namensgeber und Popart-Künstler Roy Lichtenstein.
Die Marke ROY wird geboren
Und diese Idee kam im April 2018: In einem Berliner Co-Working-Space traf er zufälligerweise auf Rupert Hoffschmidt, den er bereits aus früheren Start-up-Zeiten kannte. Hoffschmidt hatte sein damaliges Start-up verkauft und ähnlich wie Carlucci eine Auszeit hinter sich. Und in dieser hatte er erste Versuche mit Fermentation gemacht. Fermentation, das war es! Fabio Carlucci war begeistert von der Idee. Er wollte ohnehin nach zwei digitalen Start-ups nun etwas mit den Händen machen.
Aber was fermentieren? Wasserkefir? Zu unbekannt. Über Kombucha dagegen war dank des Erfolges in den USA schon vieles bekannt. In Europa allerdings war der Trend noch nicht ganz angekommen, als sie Ende 2018 zu zweit das Unternehmen gründeten.
Also ran an die Arbeit! Sie begannen zu lernen, zu recherchieren und die ersten Brauversuche zu unternehmen. Zuerst als Untermieter in einer Küche, die Tortillas herstellte. «Bis das Gesundheitsamt davon erfuhr ... und wir alles in meiner eigenen Küche zwischenlagern mussten», lacht Carlucci. Dann endlich – über ein halbes Jahr später – mieteten sie die erste eigene Küche von 20m2, in der sie anfingen professionell zu brauen, bis im Oktober 2019 die erste Dose ROY Kombucha auf den Markt kam.
Warum eigentlich ROY?
Doch wofür steht ROY? «Eigentlich für nichts. Wir wollten keinen Namen wählen, der etwas mit Kombucha zu tun hat. Lieber irgendeinen Namen wählen und eine Marke drumherum bauen, so wie es bei Apple zum Beispiel der Fall war», sagt Carlucci.
Dank eines Bildes von Popart-Maler Roy Lichtenstein und dessen Designstils kam ihnen schliesslich die Idee. «Ausserdem ist ROY ein dankbarer Name, den jeder Sprecher jeder Nationalität gut aussprechen kann.»
Der Kombucha Summit
Einem Unternehmer kribbelt es eigentlich immer in den Fingern. Das halbe Jahr, das Fabio Carlucci warten musste, um die erste eigene Küche beziehen zu können, konnte er also nicht einfach ungenutzt verstreichen lassen. Und machte sich gleich wieder an eine Gründung: Ein Summit musste her! Sprich: ein Gipfeltreffen von Kombucha-Fachleuten, die ihr Wissen, ihre Tipps und Tricks sowie Kontakte in diesem doch recht neuen Unternehmensgebiet austauschen und Vorträge von Experten verfolgen konnten.
Gleich das erste Kombucha-Gipfeltreffen war ein Erfolg und bewies, dass ein Interesse dafür vorhanden war: 250 Menschen aus über 30 Ländern von der ganzen Welt nahmen teil. «Seither organisiere ich den Summit jedes Jahr. Dieses Jahr fand er schon zum fünften Mal statt. Zwar nicht immer live, denn zu Coronazeiten hielten wir ihn online ab», resümiert Carlucci. «Dank der beiden Online-Ausgaben nahmen letztlich noch mehr Fachleute aus der Kombucha-Industrie daran teil – aus insgesamt 50 Ländern.»
Fabio Carlucci auf einem der jährlich stattfindenden Summits, die er für Fachleute der Branche organisiert.
Der Wachstumsschub
Nachdem Ende 2019 die erste Dose gelaunched und das neue Getränk erfolgreich an einige Berliner Büros verkauft worden war, bremste die Coronapandemie das junge Unternehmen sogleich wieder jäh aus. Kein Problem jedoch für die Jungunternehmer. Sie stellten die Lieferung auf Online und Free Delivery um und machten zu zweit fleissig weiter mit Brauen, Abfüllen, Verpacken, Liefern. Insgesamt knapp 100’000 Dosen füllten die beiden von Hand ab. Hatte Fabio Carlucci nicht etwas mit den Händen machen wollen? Nun hatte er es zur Genüge!
Der Verkauf lief trotz Corona gut, so dass Carlucci an eine Vergrösserung denken konnte. Nach einer ersten Runde mit Investoren im Frühling 2021 mit einem Resultat von knapp 400’000 Euro konnten die beiden jungen Unternehmer in eine Remise von 120m2 ziehen. Sie kauften vier 3000l-Tanks, eine Dosenabfüllanlage, Etikettierer und stellten weitere Mitarbeiter ein. 50’000 Dosen konnten sie zu diesem Zeitpunkt monatlich bereits an den Verbraucher bringen. «Hauptsächlich, indem wir coole Cafés belieferten, die zu diesem Zeitpunkt wieder langsam öffneten, und indem wir mit den sehr stak wachsenden Lebensmittel-Lieferdiensten zusammenarbeiteten.»
Doch dann der Schock: Die Vergrösserung war gerade über die Bühne gegangen und lief gut an, da stieg Mitgründer Rupert Hoffschmidt aus. Er wollte zurück zu Tech, raus aus dem Food-Bereich.
Selbst ist der Mann!
Fabio Carlucci liess sich dadurch aber nicht unterkriegen. Er überzeugte die Investoren, dass er es auch alleine schaffe und... er schaffte es! Er sammelte weitere 1,2 Mio Euro Investorengelder ein, stockte das Team von vier auf über zehn Leute auf, verkaufte seinen fermentierten Tee vermehrt nicht nur in Berliner Cafés, sondern auch in Supermärkten und begann den Export. «Im Moment exportieren wir in 15 verschiedene Länder. Ab Ende Februar endlich auch in die Schweiz. Es war nicht einfach, den richtigen Partner zu finden, weil die Schweiz ja nicht in der EU ist. Jetzt bin ich aber sehr froh, dass wir ganz bald auch in meiner Heimat vertreten sind!»
Und als hätte Fabio Carlucci nicht schon genug zu tun mit der ROY-Produktion und der Vorbereitung des jährlichen Summits, hat er noch eine dritte Marke erschaffen: ein Brau-Set für Menschen, die ihr Kombucha selbst zu Hause herstellen möchten. «Wir haben einen ganzen Raum voller SCOBYS!», sagt Fabio und lacht. Hört sich wie ein Haustier an, ist aber die Kultur aus Bakterien und Hefe, die man zur Fermentation braucht (siehe Kasten). «Wir packen jeweils einen SCOBY in ein Brewing Kit, zusammen mit einem Gärgefäss, Zucker, Tee, einer Bügelflasche, einem Tuch sowie einem Rezept und verschicken diese Pakete.»
Was wird die Zukunft bringen?
Bleibt bei so viel Einsatz noch Zeit für Hobbys? «Nein, ausser Sport nicht wirklich», winkt der junge Unternehmer ab, «aber ich wollte es so. Ich wollte hart arbeiten und mir etwas aufbauen. Ich habe nicht das Sicherheitsbedürfnis nach einem Angestelltenverhältnis und auch nicht die Einstellung, mich auf dem auszuruhen, was ich habe.»
Gibt es also geschäftlich bereits neue Ziele? Natürlich, und das hat der ehrgeizige Jungunternehmer schon ganz genau im Kopf: «Wir wollen aus ROY Kombucha eine europaweite Lifestyle-Marke machen und das Thema Kombucha aus der Nische bringen. Deswegen liegt unser Fokus jetzt auf Markenbildung und Ausweitung unseres Distributionsnetzwerkes.» Die Voraussetzungen dafür haben sie nun auch: Im letzten Herbst ist ROY Kombucha mit einer befreundeten Craft-Bier-Brauerei zusammengezogen, kann deren Tanks mit über 10’000 Litern mitbenutzen und hat jetzt über 350m2 Produktions- und Lagerfläche. Mit Blick auf die Zukunft sagt Carlucci: «Das ist im Moment bezüglich unserer Verkaufszahlen zwar ein wenig zu gross, aber es sind gute Voraussetzungen, die Marke aufzubauen, weil wir jetzt auch die Produktion weiter skalieren können.»
Im Herbst 2023 sieht es schon ganz anders aus: Das Team von Fabio Carlucci ist auf 14 Personen angewachsen und hat 10’000-Liter-Tanks zur Verfügung.
Next Stop: Familienidylle
Aber natürlich gibt es in nicht allzu weiter Zukunft auch ein privates Ziel: Fabio Carlucci liebt Kinder! Um sein Studium zu finanzieren, war er einige Jahre lang im Saanenland Skilehrer und das oft auch von Kindern. «Mein Ziel ist schon, eine Familie zu haben, aber im Moment hätte ich gar keine Zeit dafür!» Die pragmatische Lösung: Er möchte irgendwann die Firma verkaufen, eventuell sogar in die Schweiz zurückkommen, eine Familie gründen und ein paar Jahre vorrangig Ehemann und Vater sein. «Am besten mit fünf Kindern! Aber das muss ich noch mit meiner Freundin verhandeln...», sagt er lachend. Ein harmonisches Familienleben also – jedenfalls bis es ihn wieder packt, die nächste Firma zu gründen...
WAS IST KOMBUCHA?
Kombucha ist ein fermentiertes, gesüsstes, leicht saures und kohlensäurehaltiges Getränk, das mit Tee der Teepflanze (meistens Schwarztee, auch Grüntee, etc.) zubereitet wird. Die Kultur wird als SCOBY (symbiotic culture of bacteria and yeast) bezeichnet. Kombuchatee stammt ursprünglich aus China und wird schon seit Jahrtausenden hergestellt.
QUELLE: PHARMAWIKI
Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er im Saanenland einige Winter als Skilehrer.
ZUR PERSON
Fabio und sein älterer Bruder Danilo Carlucci sind in Saanen aufgewachsen. Ihr Vater Aldo Carlucci kam mit 16 Jahren aus Italien und arbeitete über 30 Jahre im Gstaad Palace. Mutter Beatrice wuchs mit ihren Eltern Rosita und Fred Rölli im Ebnit auf.
«Mein Grossvater Fred war erfinderisch und hatte stets gute Ideen: eine Wasserschutzhülle für seine Kamera oder das Seilwindengerät auf den Pistenmaschinen.» Allerdings scheint er nicht immer so unternehmerisch denkend wie sein Enkel gewesen zu sein. «Denn die Kommerzialisierung seiner Erfindungen machten zum Teil andere und wurden bekannt damit», sagt Fabio Carlucci mit einem Augenzwinkern.
SWO
WIR SUCHEN SIE!
Sind Sie im Saanenland aufgewachsen und leben heute im Ausland? Oder kennen Sie jemanden, der ausgewandert ist? Dann melden Sie sich bei
thomasraaflaub@bluemail.ch. Wir freuen uns!