Gerechtigkeitskämpfer für die Amputierten
19.10.2023 PorträtDas Wort «Ruhestand» trifft auf Edwin Oehrli nur theoretisch zu. Zwar zählt er 75 Lenze, aber von Ruhe ist wenig zu merken. Man könnte sich stundenoder gar tagelang mit ihm unterhalten, ohne auch nur eine einzige seiner spannenden Lebensgeschichten oder ...
Das Wort «Ruhestand» trifft auf Edwin Oehrli nur theoretisch zu. Zwar zählt er 75 Lenze, aber von Ruhe ist wenig zu merken. Man könnte sich stundenoder gar tagelang mit ihm unterhalten, ohne auch nur eine einzige seiner spannenden Lebensgeschichten oder philosophischen Reflexionen doppelt zu hören. Im Moment ist er vor allem als Präsident von Promembro und als Buchautor aktiv.
SONJA WOLF
«Nur noch wandern im Ruhestand, das ist nichts für mich», sagt Edwin Oehrli und lacht. Lachen tut er sowieso häufig und herzlich. Und sprüht nur so vor Energie. Auf dem Cover seines ersten Buches «Pinselstriche im Lebensbild» bezeichnet er sich selbst als Bäcker, Lokalpolitiker, Freimaurer und Philosoph. Autor sollte man zur Liste noch hinzufügen und nicht nur das: Er druckt und bindet seine Bücher in Handarbeit selbst. Ein Multitalent könnte man ihn fast schon nennen.
«Wenn es aufgeschrieben ist, ist es raus aus dem Kopf»
Inzwischen schreibt er bereits an seinem fünften Buch. Angefangen hat alles vor über zehn Jahren. Damals war er Mitglied im Direktorium der Schweizerischen Grossloge Alpina und gerade sehr wütend im Zusammenhang mit der Freimaurerei. «Wir Vorstandsmitglieder wollten innovativ sein, aber da kam Widerstand auf und wir wurden abgesetzt», erinnert er sich an damals. Und da fing er an, alles aufzuschreiben, so objektiv wie möglich. «Denn wenn es aufgeschrieben ist, ist es raus aus dem Kopf.» Dann machte er einfach weiter, schrieb nach dem Kapitel über die Freimaurer noch einige weitere Erfahrungen auf und so entstand sein erstes Buch mit autobiografisch geprägten Erlebnissen und Gedanken. Die Freude am Schreiben war geboren!
Selbst ist der Mann!
Aus den Erfahrungen, die er in der Schreibwerkstatt des Literarischen Herbstes im Jahr 2019 sammeln durfte, entstand sogleich ein zweites Buch mit Kurzgeschichten und Gedichten. Und die kühne Idee, die beiden Bücher selbst auszudrucken und zu binden. «Ich habe mir eine Lumbeckpresse, Buchbindeleim und Buchbindergaze angeschafft und mittlerweile schon 450 Bücher produziert», sagt er und freut sich selbst über diese für einen Selfmade-Buchdrucker recht beeindruckende Zahl. Und wie kam er zu dem modernen Bild auf dem Cover der «Pinselstriche»? «Ach, das ist ein Bild, das bei mir im Bad hängt. Das habe ich einfach eingescannt», sagt er ganz trocken und muss gleich darauf wieder einmal lachen.
Seine beiden darauffolgenden Kriminalromane wurden von einem seiner Leser sogar mit Dürrenmatts Büchern verglichen. «Der literarische Ritterschlag», freut sich der Hobbyautor und erzählt, wie er mit einigen Freunden Mitte der Sechziger Jahre sogar einmal einen ganzen Abend mit Friedrich Dürrenmatt selbst in dessen Haus verbracht hat – ganz zufällig. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden...
Diskriminierend und deprimierend
Edwin Oehrli steht auf, um eines seiner Bücher zu holen. Sein Gang ist ein wenig holprig, er ist seit einem Aneurysma im Knie, das er Ende 2019 erlitten hat, auf der linken Seite hoch amputiert. Das Thema beschäftigt ihn. Aber nicht nur wegen seines eigenen Schicksals, sondern seit knapp einem Jahr auch als Präsident des Vereins Promembro (siehe Kasten) im Dienste aller Schweizer Amputierten.
«Es geht um Gerechtigkeit bei der Behandlung der Patienten!», benennt er das Problem. Und spricht nun sehr engagiert und fast auch in einem schnelleren Tempo: «Nach einem Unfall gilt es in der Schweiz, die Menschenwürde schnell wiederherzustellen, durch eine rasche Reintegration in den Beruf und ins soziale Leben.» Auch bei einer Krankheit zähle die Wirtschaftlichkeit: dass der Patient möglichst schnell wieder in den Beruf zurückkehrt. Bei Pensionierten aber, oder bei dauerhaft Beeinträchtigten, werde bei den Hilfsmitteln gespart: «Solche Personen können ruhig auch ein veraltetes Prothesenmodell benutzen. Oder sie bekommen – obwohl sie vielleicht jung, berufstätig und sehr mobil sind –, einen geringeren Mobilitätsgrad zugewiesen als sie in Wirklichkeit haben (siehe Kasten). Er selbst geht mit seinem elektronischen Knie regelmässig die Treppe zu seiner Wohnung im ersten Stock hoch und runter, macht auch mal einen Spaziergang von Schönried nach Saanen, hat aber von der Versicherung nur Mobilitätsgrad 2 zugesprochen bekommen. «Als würde ich gerade auf unserem Trottoir vor dem Haus ein paar Meter herumlaufen können. So etwas finde ich skandalös! Man denkt, man habe ein gutes Versicherungsnetz, in unserer reichen Schweiz, und bekommt dann solche Bescheide!» Oehrli findet das diskriminierend und auch deprimierend für alle Betroffenen.
Bei Endoprothesen dagegen, also Prothesen innerhalb des Körpers wie zum Beispiel Hüftprothesen, würden keine solchen Abstufungen gemacht. Da bekomme jeder 90-Jährige die Prothese mit der neusten Technologie eingesetzt. «Aber bei den externen Prothesen tun die Versicherungen bucklig!»
Ein Brief, der Trost spendet
Promembro hat laut Edwin Oehrli inzwischen gut 160 Mitglieder. «Aber es hat viel mehr Betroffene in der Schweiz. Wir möchten bekannter werden und alle Mitglieder zusammenbringen!» Denn viele Amputierte seien aufgrund der Absagen durch die Versicherer desillusioniert und haben es aufgegeben zu kämpfen. Daher organisiert der Verein Zusammenkünfte zum gegenseitigen Austausch. Eine neue Aktion sieht vor, Frischamputierten im Spital einen Brief zukommen zu lassen, der Trostworte enthält und den Hinweis, dass die amputierte Person nicht alleine dasteht. «Denn das plötzliche Fehlen des Körperteils stimmt einen genauso traurig wie der Tod eines lieben Menschen», versucht Oehrli das Gefühl zu beschreiben. Auch er knabbere noch an diesem Verlust, hat ihn aber akzeptiert und macht sogar recht häufig kleine Scherze darüber: «Manchmal drehe ich mich mit dem Bürostuhl und schlage dann mit der Prothese alles kurz und klein um mich herum...» Oder dass er sich bei längerem Stehen gerne mit seinem ganzen Gewicht nur auf der Prothese abstützt, «wie auf einem Melkstuhl!».
Begeisterter Freimaurer
Gross ist Edwin Oehrlis Engagement für Promembro freilich, aber vergleichsweise frisch im Vergleich zu seinem Engagement bei den Freimaurern. Dort feiert er im nächsten Jahr bereits sein 50-Jahr-Jubiläum. Aktuell besucht er zweimal monatlich die Konferenzen und Tempelfeiern in der Loge Phönix in Thun. «Ich habe Freude daran», sagt er mit einem Funkeln in den Augen. «Ich habe eine universitäre Ausbildung verpasst, aber dafür hier nachgeholt.» Der ehemalige Oehrli-Beck-Geschäftsführer liebt die Vorträge und Diskussionen mit den anderen Mitgliedern oder die Vorstellung einzelner Brüder – auch er hat schon einmal eine Lesung aus einem seiner Bücher dort abgehalten.
Wütend über reisserische Bücher
«Was mich aber sehr aufregt, ist, dass es immer noch so viele Fake News über die Freimaurerei gibt!» Das passiere vor allem, wenn Aussteiger, denen es aus dem einen oder anderen Grund bei den Freimaurern nicht gefallen habe, ein reisserisches Buch schreiben, was dann als Sensation verkauft wird. «Und die katholische Kirche hat Freude daran! Denn wie jede dogmatische Religion oder autokratische Regierung fürchtet sie sich seit jeher vor Clubs mit Menschen, die frei über ernste Lebensfragen nachdenken und diskutieren.» Er dagegen liebe die Diskussionen über Religion und Politik. Und bekennt sich auch offen als Mitglied und Fan der Freimaurer. Diese sind zwar diskret und viele sprechen nicht über ihre Mitgliedschaft. «Ich aber bin stolz, dass ich damals angefragt wurde und will es nicht verschweigen.»
MOBILITÄTSGRADE
1: Innenbereichsgeher
2: eingeschränkter Aussenbereichsgeher
3: uneingeschränkter Aussenbereichsgeher
4: uneingeschränkter Aussenbereichsgeher mit besonders hohen Ansprüchen www.gebauer-hilft.de/mobilitaetsgrade
WAS MACHT PROMEMBRO?
Promembro ist die Lobby der Prothesenträger:innen und schafft ein Schweizer Netz, das auf den Schutz der Interessen der gesamten Prothesenträger:innen spezialisiert ist: Jugendliche und Ältere, Sportler und Nichtsportler, Aktive und Rentner, Kranke und Gesunde. Der Verein vertritt die Anliegen der Mitglieder sowohl bei der Bevölkerung als auch in der Politik und der Verwaltung. Institutionen wie Procap oder Pro Infirmis sind zu gross, um sich der kleinen Zahl der Prothesenträger genügend zu widmen.
Was Promembro verbessern möchte: Die Innovationen der vom Bund geförderten Forschungszentren können von den Versicherten nicht genutzt werden. Einerseits forschen die polytechnischen Schulen mit Bundesgeldern und entwickeln die «Prothesen von morgen». Andererseits stützen sich die IV und die SUVA auf Rechtsgrundlagen, die es erlauben, den Zugang zu den heutigen Technologien zu verhindern. www.promembro.ch