Positive Energie aus dem Insekt
06.02.2023 KunstAuch aus der diesjährigen 5. Ausgabe des Performance-Programms «Elevation 1049» wird dem Saanenland eine Installation erhalten bleiben und uns im Bestfall zu Umarmungen animieren.
SONJA WOLF
Feurige Sambarhythmen mit traditioneller Alphornbegleitung ...
Auch aus der diesjährigen 5. Ausgabe des Performance-Programms «Elevation 1049» wird dem Saanenland eine Installation erhalten bleiben und uns im Bestfall zu Umarmungen animieren.
SONJA WOLF
Feurige Sambarhythmen mit traditioneller Alphornbegleitung inmitten der Pisten auf dem Eggli. Eine Menschenmenge in Gewändern aus bunten Stoffstreifen tanzt ausgelassen zu den gegensätzlichen Klängen, die dennoch überraschend gut harmonieren. Im Schnee stecken unzählige Holzstöcke. Die ganze fröhliche Gesellschaft bewegt sich mitsamt der brasilianischen Musikkombo im Takt wippend von Stock zu Stock und hängt eine Art Leine auf, an der noch viel mehr farbige Stoffstreifen baumeln.
Nein, es handelt sich nicht etwa um eine Karnevalsveranstaltung, sondern um ein Ritual beim Aufbau einer Skulptur. Es ist wieder Elevation 1049, die fünfte Ausgabe seit 2014.
Ein heilendes Insekt
Das Werk, das am Samstag in einer spektakulären Live-Performance auf dem Eggli aufgebaut wurde, stellt ein riesiges Insekt dar – in seiner ganzen Schönheit natürlich nur aus der Drohnenperspektive zu bewundern. «Ich mag Insekten!», verrät der Künstler Ernesto Neto am Abend nach der Performance, müde, aber doch sehr glücklich. Die Idee zu seiner Skulptur «Healing Bug Acupun Earth» sei ihm in der Covidzeit gekommen. «Wir brauchten mehr denn je Freude, gute Energie und ‹good vibrations›», sagt er. Und Heilung für die Erde. Die Insekten frässen schliesslich organische Abfälle wie Apfelgehäuse und führten sie wieder in Form von Energie der Erde zu. «Auch du und ich werden dereinst von ihnen verspeist», fügt er noch mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. «Acupun Earth» im Namen der Skulptur stehe für die Stöcke, die wie Akupunkturnadeln in der Erde stecken.
«Meine Kunst ist inklusiv!»
Energie gebe sein Kunstwerk den Menschen sowieso. Schon die Live-Performances zum Aufbau waren auf eine aktive Teilnahme des Publikums angelegt. Das auf den ersten Blick gleich aussehende Pendant zum Eggli-Riesenkäfer wurde vergangenen Dienstag bereits im Rübeldorf an der Talstation aufgebaut und am Samstagmorgen wieder mit viel brasilianischen Klängen und Publikum eingetanzt. «Meine Kunst ist inklusiv, auf keinen Fall exklusiv!» Darauf legt der Künstler wert. «Es ist schön, wenn wir zusammen sind und unsere Ideen teilen!» – auch für die kommenden Wochen. Denn beide Insekten-Skulpturen sind bis zum 16. April noch zu sehen und zu besuchen.
Doch auf keinen Fall nur aus der Ferne: Am liebsten ist dem Künstler, wenn sich die Besucher inmitten der Stangen und wehenden Stoffstreifen, sozusagen im Zentrum des Käferbauches, auf Klappstühlen niederlassen und eine Flasche Wein zusammen trinken, ein Picknick machen, tanzen oder sich umarmen. «Ein healing hug in einem healing bug!», sagt er lachend. Dann geht auch sicher die Energie auf die Besuchenden über, die in dem Werk steckt.
Chakrenenergie
Was in der Liveperformance so locker herüberkommt, habe er genauestens geplant, wie er verrät. So tragen die Stoffstreifen an der Skulptur im Tal die Chakrenfarben rot, orange, gelb und grün nach den durch das Yoga bekannten Wurzel-, Kreuz-, Solarplexus- und Herz-Chakren. Die Farben oben am Berg beziehen sich hingegen auf die Chakren der oberen Körperhälfte, wieder beginnend mit dem Herzen und dessen Chakrafarbe grün, so dass die Einheit zwischen den beiden Teilskulpturen hergestellt ist. Dann gehen die Farben über in türkis, blau und violett, symbolisch für Hals, Stirn und Krone.
Aber auch die Yoga-Unkundigen, die den genau vorgeplanten Energiefluss womöglich nicht spüren, werden beeindruckt sein, einfach von den Ausmassen der beiden Insektenskulpturen. Immerhin wurden über 120 Stöcke in den Boden gerammt und an den über 600m langen Leinen wehen insgesamt etwa 5700 Stoffstreifen, die alle eigens vom Künstler und seinem Team in den Chakrenfarben eingefärbt, in bestimmte Längen geschnitten und an der Leine festgeknotet wurden. Bis April werden die Stoffe zwar unter aller Voraussicht an der Leine halten, jedoch farblich ausbleichen. «Das ist aber gewollt». sagt Ernesto Neto, es gehört einfach zu seinem «Healing Bug Acupun Earth» dazu.
Erinnerungen an die Spiegelhausinstallation
Die Bevölkerung des Saanenlandes ist daran gewöhnt, dass einzelne Kunstwerke von der Elevation 1049 das Wochenende der Live-Performances überdauern und der Gegend ein wenig länger erhalten bleiben. Die Spiegelhausskulptur «Mirage» der 3. Ausgabe der Elevation im Februar 2019 etwa blieb bis zum April 2021 stehen.
Der Künstler und «Mirage»-Schaffer Doug Aitken war extra für die diesjährige 5. Ausgabe der Elevation 1049 namens «Interstices» angereist. Mitgebracht hatte er sein neues Buch, welches bisher unveröffentlichte Foto-Dokumentationen oder Zeichnungen der Spiegel-Installation von Gstaad enthält, aber auch der anderen Ausstellungsorte in der kalifornischen Wüste und Detroit. «Ich bin dankbar, dass ich etwas schaffen konnte, was die Bevölkerung hier besitzen und nutzen konnte», zieht er Bilanz aus seinem Werk. Ob in der Zukunft noch einmal etwas von ihm komme? «Geplant ist zwar nichts, aber ich würde natürlich gerne wieder etwas hier machen. Hier ist es einmalig, dynamisch. Die natürliche Landschaft und die Kultur ist beeindruckender als sonst wo. Rufen Sie mich bei Bedarf doch einfach an!»
Ernesto Neto «Healing Bug Acupun Earth» ist noch bis zum 16. April zu sehen: www.elevation1049.org/de
Weitere Fotos von der «Healing Bug Acupun Earth» und weiteren Performances der Elevation 1049: anzeiger.be/elevation-2023