Hier spielt die Musik!
03.11.2025 PorträtDer Wunsch, den Schulunterricht zu verbessern, begleitet Amelia Westemeier seit ihrer Kindheit. Die im Saanenland Geborene kann diesen Traum nun in ihrer Heimat als Klassenlehrerin verwirklichen. Musik spielt dabei eine besondere Rolle.
JONATHAN SCHOPFER
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Der Wunsch, den Schulunterricht zu verbessern, begleitet Amelia Westemeier seit ihrer Kindheit. Die im Saanenland Geborene kann diesen Traum nun in ihrer Heimat als Klassenlehrerin verwirklichen. Musik spielt dabei eine besondere Rolle.
JONATHAN SCHOPFER
Draussen springen ein paar Schulkinder auf dem Pausenplatz umher und spielen mit den farbigen Ahornblättern. Es ist ein warmer Herbstnachmittag und die meisten Kinder haben unterrichtsfreie Zeit. Die Klassenzimmer sind leer und die Stühle stehen auf den Pulten – es ist ruhig im Schulhaus Saanen-Zenetsmatte.
Amelia Westemeier sitzt am Lehrerpult der 4./5. Klasse. Bedacht und fröhlich spricht die frischgebackene Klassenlehrerin über ihre Erfahrungen mit Musik im Unterricht und macht sich darüber allerlei Gedanken. In ihrer Bachelorarbeit untersuchte sie, wie der Unterricht von therapeutischen Musikansätzen profitieren kann.
Sie führt gleich vor, wie – etwa mit der Klangschale. Sie bringt die Schale zum Klingen, lauscht dem abnehmenden Ton nach, und ihre Augen beginnen zu leuchten. Westemeier versteht es, aus kleinen Momenten etwas Besonderes zu machen. Dann sinniert sie: «Musik ist eine universelle Sprache und alle können auf ihre Art mitmachen.»
Ich möchte es einmal besser machen
Schon früh wusste sie, dass sie Lehrerin werden wollte. Das erstaunt, denn sie selbst hatte auch negative Erfahrungen mit Lehrpersonen gemacht. «Als Kind fürchtete ich mich vor einer Lehrerin, damals drehte es mir vor jeder Lektion den Magen um», erzählt sie. Dann lächelt sie und fügt bestimmt hinzu: «Damals sagte ich mir: Ich möchte Lehrerin werden und dafür sorgen, dass es meinen Schüler:innen einmal besser geht!»
Hier spielt die Musik und gibt Struktur
Später zeigt Amelia Westemeier den Musikraum, in dem sich auch die Bibliothek des Schulhauses befindet. Hier unterrichtet sie besonders gern Musik. «Es ist toll, dass ich Musik in einem gut ausgestatteten Raum unterrichten kann. Die Kinder haben so einen festen Ort, an dem sie wissen, welche Strukturen sie erleben werden», sagt sie.
Auch arbeite sie zur Wissensvermittlung gern spielerisch: «Wir legen Notenlinien mit Seilen auf den Boden, die Kinder stellen sich darauf. Dann frage ich: ‹Was passiert, wenn du einen ganzen oder halben Schritt machst?› So verstehen sie die Tonabstände körperlich und das bleibt hängen.» Sie sehe sich schon in erster Linie als Lehrerin, also als Pädagogin.«Aber das schliesse ja nicht aus, dass man die Erkenntnisse aus der Musiktherapie für den Unterricht verwendet. Natürlich ist das am Anfang auch ein Ausprobieren.» Und dieses Ausprobieren macht ihr merklich Freude.
Lieblings- und Zukunftsmusik
Musik begleitet sie überallhin, sei es im Unterricht, als Klarinettenspielerin in der Musikgesellschaft Gstaad (MGG) oder im Auto beim Musikhören. Ihr Geschmack ist vielseitig: von Rock von Queen über Deutschrap von Ski Aggu bis zu Mundartliedern von Hecht oder Patent Ochsner. Auf ihre Zukunftspläne angesprochen, sagt sie, sie wolle sicher im Saanenland alt werden. Ausserdem sei sie ein Familienmensch: «Auf ihre Unterstützung kann ich immer zählen.» Natürlich möchte sie auch einmal auf Reisen gehen. Aber im Moment stehe für sie ihr Beruf im Vordergrund, um weitere Erfahrungen zu sammeln und dafür sei sie dankbar, denn: «Für mich ist der Lehrberuf ein Traumberuf!»
Wovon träumen die jungen Menschen im Saanenland und wie gestalten sie ihr Leben? Die Serie «Jung und …?» gibt ihnen eine Stimme.
«MIT MUSIK ZUM STRESSFREIEREN LERNEN»
Wie musiktherapeutische Ansätze im Unterricht eingesetzt werden können, untersucht Amelia Westemeier in ihrer Bachelorarbeit. Sie beschreibt darin verschiedene Möglichkeiten, welche Elemente im Unterricht eingesetzt werden können:
– Wiederkehrende musikalische Rituale schaffen Sicherheit und Orientierung (z.B. Begrüssungslieder oder musikalische Übergänge).
– Improvisation mit einfachen Instrumenten oder der Stimme ermöglicht nonverbalen Ausdruck und stärkt das Selbstwertgefühl.
– Musik und Bewegung helfen, Spannungen abzubauen und Körperwahrnehmung zu fördern (z. B. rhythmisierte Schüttel- oder Tanzübungen).
– Rezeptive Verfahren bieten gezielte Entspannung und Regulation bei innerer Unruhe (z.B. Musik hören in Verbindung mit Fantasiereisen oder Atemübungen).
– Musikalische Gruppenprozesse stärken Zugehörigkeit, Empathie und soziale Kompetenz (z.B. gemeinsames Musizieren, rhythmische Interaktionen). Auszug aus Amelia Westemeiers Bachelorarbeit
ZUR PERSON
Amelia Westemeier, Jahrgang 2004, besuchte die Primarschule in Turbach. Schon seit ihrer Kindheit spielt sie Klarinette und wusste ausserdem, dass sie einmal Lehrerin werden möchte. Sie absolvierte das Gymnasium in Gstaad und ging danach direkt ins Unterland an die Pädagogische Hochschule NMS Bern. «Dort war ich mit Abstand die jüngste Studentin», erinnert sie sich.
So kommt es, dass Amelia Westemeier bereits mit 21 Jahren eine Stelle als Klassenlehrerin an der Primarschule Zennetsmatte in Saanen innehat. Für ihre Bachelorarbeit «Mit Musik zum stressfreieren Lernen» erhielt sie die Bestnote. JSC
Rhythmus im Schulunterricht – mit der Klangschale
AMELIA WESTEMEIER IM INTERVIEW
Die Klassenlehrerin Amelia Westemeier hat ihre Bachelorarbeit über musiktherapeutische Ansätze mit dem Titel «Mit Musik zum stressfreieren Lernen» geschrieben. Sie spricht darüber, wie die Ansätze zum Lehrplan 21 passen und weshalb Musik das Lernen fördern kann.
JONATHAN SCHOPFER
«…die Musik heilt den Körper über den Weg zur Seele.» Amelia Westemeier, dieses Zitat haben Sie in Ihrer Bachelorarbeit verwendet. Was bedeutet dieses für Sie persönlich?
Ja, das stimmt sehr mit meinen Erfahrungen überein. Wenn eine Seele nicht gesund ist – wie kann es dann der Körper sein? Musik löst bei jedem etwas aus. Sie berührt die Seele.
Wie erklären Sie sich die heilende Wirkung der Musik?
Musik ist ein extrem guter Träger von Emotionen – sie verstärkt. Und darin liegt auch Heilung. Wenn ich mit Musik Emotionen auslöse, kann ich auch solche unterstützen, die feststecken oder die man zurückhält und die einem nicht guttun.
Welche Erkenntnisse haben Sie während der Bachelorarbeit gewonnen?
Musik kann Angst reduzieren. Die Musik stimuliert zum Beispiel den Mandelkern, ein Areal im Gehirn, wodurch kreative Prozesse und Lernfähigkeit begünstigt werden können. Stressreaktionen hingegen beeinträchtigen die Hirnprozesse, die für das Lernen notwendig sind. Die Verbindung von Musik und Stress lässt sich also nachvollziehen. Ist man weniger gestresst, kann man wiederum besser lernen.
Wie bringen Sie nun diese Erkenntnisse in Ihren Unterricht ein?
Vielleicht das Wichtigste: Ich arbeite mit einer Klangschale – sie haben mich immer beeindruckt und seit Kurzem besitze ich meine eigene. Sie hilft, die Aufmerksamkeit zurückzuholen. In der Musiktherapie wird viel mit Klanginstrumenten gearbeitet. Wenn ich den Ton erklingen lasse, entsteht sofort Ruhe im Raum. Auch habe ich Klatschübungen eingebaut, das gibt den Schülerinnen und Schülern Struktur.
Passen diese Ansätze eigentlich zum Lehrplan 21? Da ist ja sozusagen vorgeschrieben, was zu unterrichten ist?
Der Lehrplan 21 sieht im Zyklus zwei – ich arbeite im Zyklus zwei – zwei Lektionen Musik pro Woche vor. Ich habe das in meiner Arbeit genauer angeschaut, weil ich mich gefragt habe: Nur zwei Lektionen? Kann das sein? Ich weiss, wie wichtig Musik ist.
Im Kindergarten wird überall gesungen – das Morgenritual, vieles ist spielerisch und musikalisch. Aber wenn man den Lehrplan genauer liest, sieht man: Musik soll überfachlich unterrichtet und integriert werden. Ich weiss jetzt, dass der Lehrplan das tatsächlich vorsieht. Trotzdem fände ich es wichtig, dass in der Ausbildung noch klarer vermittelt wird, welche Möglichkeiten es gibt, Musik in den Fächern einzubinden.
Wie binden Sie die Musik fächerübergreifend ein?
Im Französisch arbeite ich oft mit französischen Lernliedern, die in der Klasse sehr gut ankommen. Auch im Fach Natur, Mensch, Gesellschaft, also NMG, habe ich zum Thema Mittelalter eine Lektion mit Minnesang eingeplant.
Und dann kommen noch die Klanginstrumente der Musiktherapie hinzu, die den Unterricht verbessern können.
Wenn jetzt eine Lehrperson unmusikalisch ist, empfehlen Sie ihr trotzdem, therapeutische Musikansätze im Unterricht zu brauchen?
Ich möchte ermutigen, diese Ansätze auszuprobieren. Ich probiere die ganze Zeit aus: Was funktioniert bei den Kindern, was nicht? Mein Ziel für die Bachelorarbeit war, etwas in der Hand zu haben, um anderen zu zeigen: Probiert es mit Musik, mit kreativen, musischen Aktivitäten.
Wieso haben Sie sich für dieses Thema entschieden?
Aus persönlichen Gründen. Ich habe schon früh gespürt, wie viel Kraft in der Musik liegt. Ich spiele seit zehn Jahren in der Musikgesellschaft Gstaad, bin ein aktives Mitglied. Als Kind war das mein Highlight am Ende der Woche – auch wenn die Schule manchmal schwierig war. Am Freitagabend konnte ich Musik machen und der ganze Stress, die schweren Gefühle waren weg.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft im Unterricht?
Ich wünsche mir, dass Musik wieder mehr Gewicht bekommt – nicht als Fach, das man abhakt, sondern als etwas, das Kinder stärkt, verbindet und sie wachsen lässt.




