Vom Saanenland in den Kampf gegen die Ausbeutung
20.01.2025 SerieDas Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Damian Jutzi wuchs im Saanenland auf. Heute lebt ...
Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Damian Jutzi wuchs im Saanenland auf. Heute lebt der 28-Jährige in Kapstadt, Südafrika, wo er für die Organisation «Not I But We» arbeitet. Dort setzt er sich für Überlebende von Menschenhandel ein und zeigt, wie kleine Taten Grosses bewirken können.
ELISA OPPERMANN
Die Dimensionen des Problems sind erschreckend. Laut dem Bundesamt für Polizei (Fedpol) verdienen Menschenhändler weltweit jährlich 150 Milliarden Dollar an der Ausbeutung von Menschen. Die moderne Sklaverei ist eine der düstersten Schattenseiten unserer globalisierten Welt. Es ist ein Geschäft, das Profit generiert – und dabei pro Jahr knapp 25 Millionen Opfer fordert. Frauen und Mädchen werden gezwungen, in der Prostitution, in Nagelstudios oder in Modefabriken zu arbeiten, während die Männer auf Baustellen oder in der Landwirtschaft zur modernen Sklaverei erniedrigt werden – oft ohne jegliche Rechte oder Perspektiven. Südafrika, sagt Damian Jutzi (28), sei Transit-, Rekrutierungs- und Zielort zugleich. Opfer werden ins Land geschleust, innerhalb ihrer Grenzen ausgebeutet oder für weitere Ziele vorbereitet.
Doch auch die Schweiz ist nicht frei von dieser Problematik: «Selbst hier gibt es Fälle von Zwangsarbeit und Ausbeutung, die oft im Verborgenen bleiben.» Damian Jutzi, geboren und aufgewachsen in Schönried, studierte Betriebswirtschaft an der Berner Fachhochschule. Im letzten Studienjahr lernte er seine zukünftige Ehefrau kennen, die damals die letzten administrativen Schritte erledigte, um nach Kapstadt auszuwandern. Was als befristeter Aufenthalt begann, wurde zu einer dauerhaften Berufung. Mittlerweile ist das Paar nach Kapstadt ausgewandert, beide arbeiten für die Non-Profit-Organisation (NPO) «Not I But We». Obwohl der initiale Kontakt zu «Not I But We» durch seine Frau kam, faszinierte Jutzi die Arbeit mit den Frauen vor Ort: «Ich war einer der ersten Männer, die hier aushelfen durften.» Um ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen, ist die Organisation eher zurückhaltend mit männlichen Mitarbeitenden und Freiwilligen. «Schliesslich hat mich sogar eine der Frauen selbst angeworben, was mich persönlich sehr gefreut hat. Ich glaube, meine bevorstehende Heirat hat ihnen auch zusätzlich das Gefühl von Sicherheit gegeben. Es war berührend, eine solche Wertschätzung und Offenheit zu erleben von Frauen, die mit Männern schwere Traumata verbinden», sagt Jutzi über seine Anfänge bei der Organisation.
Rehabilitation und Resozialisierung
«Not I But We» wurde von Madison Barefield, einer Sozialunternehmerin aus den USA, gegründet. Sie bietet weiblichen Überlebenden von Menschenhandel nicht nur einen trauma-informierten Ausbildungs- und Arbeitsplatz, sondern eine Perspektive. Hier lernen Frauen, die zuvor von Ausbeutung betroffen waren, das Nähen – eine Fähigkeit, die ihnen nicht nur finanziellen Halt, sondern auch ein Stück Würde zurückgibt. Wenn die Opfer aus der Ausbeutung befreit werden, ist der Drogenentzug oftmals der erste Schritt, bevor sie in ein Schutzhaus kommen. «Bei ‹Not I But We› arbeiten wir eng mit ‹S-Cape› zusammen, einem der wenigen Schutzhäuser für weibliche Opfer von Menschenhandel in der Western-Cape-Provinz. Während der Zeit im ‹Safehouse› können sie bei uns das Nähen lernen und anschliessend, wenn sie weiterhin in Kapstadt bleiben wollen, finden sie eine Anstellung bei uns», erklärt Jutzi.
Die Produkte – von handgefertigten Scrunchies (Haarbänder) über Taschen bis hin zu Kleidung – werden unter fairen Bedingungen hergestellt und verkauft. Der doppelte Mindestlohn, den die Organisation zahlt, ist für viele dieser Frauen der erste Schritt in ein selbstbestimmtes Leben. «Finanzielle Stabilität ist entscheidend, um eine Rückkehr in ausbeuterische Strukturen zu verhindern», so Jutzi. Die weiteren Triumphe von «Not I But We» zeigen sich oft im Kleinen: Frauen, die voller Stolz ihre ersten Produkte präsentieren oder jene, die sich schrittweise in den wöchentlichen «Care Circles» öffnen und über ihre Emotionen sprechen. Einige Mitarbeiterinnen bleiben nur wenige Monate, andere über Jahre. Für viele ist es die erste feste Arbeitsstelle ihres Lebens – und ein entscheidender Wendepunkt. «Letztens fragte mich eine der Frauen, ob wir ein Foto von ihr als Mitarbeiterin auf unserer Website veröffentlichen können, weil sie so stolz war, zum ersten Mal eine Arbeitgeberin zu haben.» Dies sei sehr berührend gewesen, so Jutzi.
Menschenhandel und die Schweiz
Die Arbeit in einem Umfeld, das von Traumata geprägt ist, erfordert ein hohes Mass an Resilienz und Struktur. Die Werte, die er in Schönried gelernt hat – insbesondere die Liebe zur Natur – bleiben und geben ihm Kraft für seine Arbeit. «Ein Spaziergang mit einer Tasse Kaffee am Morgen hilft mir, ruhig und bewusst in den Tag zu starten und ist fast schon ein Morgenritual», erzählt Jutzi. Obwohl er, im Gegensatz zu seiner Frau, mehr auf der unternehmerischen Seite ist, beschreibt er die Balance zwischen Geschäftlichem und Menschlichem als schwierig: «Wir müssen genug Profit machen, um die Organisation am Laufen zu halten, und gleichzeitig individuell auf die Frauen eingehen.» Besonders herausfordernd sei das Thema Fundraising. «Die Einnahmen reichen zwar, um den Frauen faire Löhne bezahlen zu können, wir können uns selbst aber keine Löhne auszahlen.» Ohne die Unterstützung Dritter aus der Schweiz ist ein nachhaltiges Engagement deshalb nicht möglich. Wir sind dankbar, hier mit der Schweizerischen Missions-Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Seine Zukunft liegt in Südafrika, dennoch fühlt er sich der Schweiz verbunden. «Wir könnten die Arbeit auch in der Schweiz machen. Menschenhandel ist ein globales Problem», so Jutzi. Umso erfreuter ist er über die zukünftige Kooperation mit der Berner Fachhochschule im kommenden Semester als Praxispartnerin im «Social Innovation»-Modul.
Wir sind mitverantwortlich
«Not I But We» hat ambitionierte Pläne für die Zukunft. Im Jahr 2025 sollen laut Jutzi 20 weitere Arbeitsplätze geschaffen werden. Ein grösseres Büro wird bezogen, welches den nötigen Raum bieten soll. Doch Jutzi und sein Team haben nicht das Wachstum als oberste Priorität: «Das Wohl der Frauen steht immer an erster Stelle», betont er. In seiner Arbeit bei «Not I But We» sieht Jutzi nicht nur einen Beitrag zur Unterstützung der Frauen, sondern auch eine Botschaft an die Konsument:innen weltweit: «Wir alle tragen Verantwortung. Jeder Kauf hat Konsequenzen – für Menschen und die Umwelt. Es lohnt sich, genauer hinzusehen.» Die Produkte von «Not I But We» sind dabei nur ein Beispiel für fairen Handel. Der Unterschied, den ein fairer Lohn für die Frauen mache, sei enorm. Für die Käufer hingegen bleibe der Preis überschaubar, erklärt Jutzi. «Wir müssen uns fragen, woher unsere Kleidung kommt, wer sie hergestellt hat und unter welchen Bedingungen.»
Er selbst versucht, sein Konsumverhalten zu ändern, kauft bewusster und hinterfragt vermeintliche Schnäppchen. «Ein T-Shirt, das nur 5 Franken kostet, hat seinen Preis – nur zahlt ihn jemand anderes.» Die Zukunft von «Not I But We» sieht Jutzi optimistisch. Die Organisation plant, ihre Kapazitäten auszubauen, neue Partnerschaften zu knüpfen und weitere Frauen in ein selbstbestimmtes Leben zu begleiten. Zudem wird sie ab 2025 mit der Berner Fachhochschule zusammenarbeiten, um ihre Nachhaltigkeit zu verbessern. Für Jutzi bleibt die Arbeit ein Herzensprojekt. Es ist ein stiller, oft unsichtbarer Kampf, doch es ist auch ein Kampf, der Hoffnung stiftet – für die Frauen, die bei «Not I But We» eine Chance auf ein würdevolles Leben erhalten, und für eine Welt, die sich ihrer Verantwortung bewusster werden muss. Sein Aufruf ist klar: «Informieren Sie sich, hinterfragen Sie Ihre Entscheidungen und unterstützen Sie, wo Sie können. Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu bewirken.» Mit seiner Arbeit bei «Not I But We» verbindet Damian Jutzi Unternehmertum mit sozialem Engagement. Die Organisation zeigt, dass nachhaltige Lösungen für komplexe Probleme möglich sind – und dass Veränderung oft dort beginnt, wo die Not am grössten ist. Von Schönried aus hat Damian Jutzi den Schritt in eine Welt gemacht, die für viele unsichtbar bleibt. Seine Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, hinzusehen – und zu handeln, aber auch gross zu träumen.
MENSCHENHANDEL IN DER SCHWEIZ: EINE UNTERSCHÄTZTE REALITÄT
Menschenhandel ist ein lukratives Verbrechen, das weltweit jährlich 150 Milliarden Dollar generiert – und auch die Schweiz bleibt nicht verschont. Laut dem Trafficking in Persons (TIP) Report 2024 der US-Regierung hat die Schweiz Fortschritte gemacht, beispielsweise durch erhöhte Fördergelder und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich um Prävention und Opferschutz kümmern. 2023 wurden hierfür 800’000 Schweizer Franken bereitgestellt, ein Anstieg im Vergleich zu den 600’000 Franken im Vorjahr. Dennoch bleiben grosse Herausforderungen bestehen. So kritisiert der Bericht, dass milde Strafen – häufig unter einem Jahr oder auf Bewährung – die Abschreckung untergraben und die Sicherheit der Opfer gefährden. Auch die Strafverfolgung von Arbeitsausbeutung ist weiterhin gering. 2022 identifizierte die Schweiz 38 Opfer von Menschenhandel, darunter ein Kind und zwei Schweizer Staatsangehörige. Menschenhändler nutzen zunehmend Online-Plattformen, um Opfer zu rekrutieren und zu kontrollieren. Besonders perfide ist die «Loverboy-Methode», bei der junge Männer vermeintliche romantische Beziehungen aufbauen, um Frauen und Mädchen in die Zwangsprostitution zu treiben. Zwangsarbeit betrifft zudem viele Branchen – von der Landwirtschaft und dem Bau bis hin zu Pflegeberufen und Nagelstudios.
EOP
ACT212 – Nationale Meldestelle gegen Menschenhandel und Ausbeutung – Anonyme Hotline: 0840 212 212
Quellen: www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home/kriminalitaet/">https://www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home/kriminalitaet/ menschenhandel/opfer-taeter.html www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home/kriminalitaet/">https://www.fedpol.admin.ch/fedpol/de/home/kriminalitaet/ menschenhandel/links.html https://notibutwe.com/blogs/blog/2024-trafficking-in-persons-report-for-south-africa