Marieke Kruit: «Was verbindet, ist wichtig, nicht, was trennt»
17.01.2025 TurbachDas Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Heute porträtieren wir die gebürtige ...
Das Saanenland war und ist geprägt von Zu- und Wegzügen. Die Leserinnen und Leser des «Anzeigers von Saanen» sind nicht nur im Saanenland zu finden, sondern in der Schweiz und im Ausland – ja, in der ganzen Welt. Heute porträtieren wir die gebürtige Niederländerin Marieke Kruit, die im Turbach aufgewachsen ist. Seit Anfang dieses Jahres amtet die SP-Politikerin als Berner Stadtpräsidentin.
THOMAS RAAFLAUB
Marieke Kruit blickt gerne auf ihre Kindheit auf dem Land, im Turbach, zurück. Sie genoss die Freiheit am Bach, in den Wäldern und auf den Bergen, die Ausflüge in die Umgebung. Nein, sie sei nie Stattermädchen gewesen, habe aber manchmal auf Alp Mettlen übernachtet, sagt sie. Als Jugendliche habe ihr die Abgeschiedenheit vom Turbach eher Schwierigkeiten bereitet. Schon als Vierzehnjährige sei sie deshalb mit dem Motorfahrrad ins Jugendzentrum nach Saanen und später dann zum dortigen Pub, nach Gstaad zu «Chez Esther», auch zu Sammy’s Bar, zur Grotte oder zum Stollen gefahren. «Ich war eine ‹Zuehagschlinggeti›, keine Einheimische, das war ab und an schon auch ein Thema in der landwirtschaftlich geprägten Umgebung. Meine Familie hatte einen anderen kulturellen Hintergrund. Ich wuchs in zwei verschiedenen Welten auf.»
Huldi Reichenbachs Musikunterricht
Vielleicht gerade deswegen bevorzugt Marieke Kruit Verbindungen und vermeidet Trennendes: «Was verbindet, ist wichtig, nicht was trennt.» Diese Haltung ist ihr auch in Bern und in ihrer Funktion als Stadtpräsidentin unentbehrlich. «Ich versuche, Minderheiten einzubeziehen, fördere den Dialog, höre mir verschiedene Meinungen an, nehme die unterschiedlichen Lebenswelten wahr und versuche diese zu würdigen. Dabei hilft mir immer wieder, was ich im Turbach erleben durfte. Diese prägende, unvergessliche Zeit, die Hilfsbereitschaft, die mir zuteil wurde.» Dazu gehöre auch, sagt sie lachend, ihre musikalische Ausbildung durch Huldi Reichenbach an der Block-, Alt- und Querflöte. «Leider habe ich jetzt kaum mehr Zeit, Musik zu machen.»
Jungfrau statt Gummfluh
Die Verbindung zum Land und zu den Bergen ist Marieke Kruit wichtig geblieben. «Mein Migrationshintergrund hat mich positiv geprägt. Die Verbindung vom ländlichen Hintergrund mit der nun städtischen Umgebung ist von grossem Vorteil für mich, ist ein Gewinn. Auch hier im Osten von Bern bin ich schnell im Wald und im Grünen, freue mich am Anblick von Eiger, Mönch und Jungfrau in der Ferne, die mir Gummfluh, Rüblihorn und Videmanette ersetzen.» Sie schätze den dicht getakteten öffentlichen Verkehr in Bern und vermisse den Aufstieg von Gstaad in den Turbach mit dem Fünfgangvelo kaum.
Das Gifferhorn mit zwei F
Noch einmal weist Marieke Kruit auf die Freiheiten ihrer Kindheit und Jugendzeit hin. Wie gefahrlos sie im Turbach aufwachsen konnte, die vielen unterschiedlichen Begegnungen, wie sie mit vielen Leuten Kontakt hatte. «Der Betrieb Gifferhorn – mit zwei F – meiner Eltern war ein KMU und ich bin als Wirtstochter aufgewachsen. Mutter und Vater arbeiteten hart und ich habe im Betrieb mitgeholfen.» Die Affinität zu den kleinen und mittleren Unternehmungen sei ihr geblieben, sagt sie. Deshalb wolle sie in Bern dem Wirtschaftsverkehr mehr Wichtigkeit beimessen: «Die Handwerker, der Sanitärinstallateur, der Maler und andere Dienstleistenden müssen besser zu ihren Kunden kommen. Trotz der Erfahrungen mit dem Fünfgangvelo ist es mir auch ein grossen Anliegen, den Fahrrädern in der Stadt mehr Platz zu geben.»
Skifahren am Wasserngrat
Die heutige Stadtpräsidentin von Bern wollte als Kind Radiomoderatorin werden und hat sich diesen Kindheitstraum auch erfüllt: Was mit Kassettenrekorderaufnahmen im Turbach begann, ging mit der Arbeit bei Radio BEO in Interlaken und bei Radio Extra-BE weiter. Dabei hat sie ihre Wurzeln nie vergessen, findet die Landschaft des Saanenlandes immer noch einmalig, ist letztes Jahr über Jaun und Abländschen mit dem E-Bike in die Region gefahren, besucht ihren Bruder in Zweisimmen, liebt die Natur hier. Erinnert sich gerne an die Touren in die Berge und zu der Gelten- oder Wildhornhütte, oder ans Skifahren – am Wasserngrat, wo denn sonst – und findet es schade, dass es nicht mehr so viel schneit wie in ihrer Kindheit.
Tempo 30 in Bern und in Schönried
Marieke Kruit ist nun auch in Bern verwurzelt und setzt sich überall für ihre neue Heimat, für ihre Stadt ein. Was sie im Turbach gelernt habe, funktioniere auch hier, sagt sie: «Lösungen müssen gemeinsam erarbeitet, Kompromisse gemeinsam gesucht werden. Stadt und Land sind zwar nahe beieinander, haben aber verschiedene Konzepte, wie Probleme gelöst werden können. Dies macht den Austausch spannend. Dabei werden die Unterschiede oft überbewertet. Ein Beispiel: Tempo 30 wird in Bern und in Schönried diskutiert. Wir müssen Gemeinsamkeiten suchen und Gräben überbrücken. Wenn Stadt und Land, Gemeinden und Kanton Bern Seite an Seite und nicht gegeneinander arbeiten, dann finden sich immer Lösungen.»
Starke Frauen auf dem Land und in der Stadt
Wie im Turbach sei auch der Zusammenhalt in der Stadt gut, die Nachbarschaft freundschaftlich. «Es gibt auf dem Land starke und progressive Frauen und in der Stadt auch. Es war das kleine Dorf Unterbäch im Wallis, das den Frauen zuerst das Stimmrecht in der Schweiz gab. Tagesschulen sind keine städtische Erfindung, denn die Schulwege auf dem Land waren so lang, dass die Kinder in der Schule verpflegt werden mussten. Das kenne ich aus dem Turbach.» Obwohl ihr die Kindheit auf dem Land immer noch sehr präsent sei, verlöre sie immer mehr die Berührungspunkte, denn Bekannte seien weggezogen oder gestorben. Die Lieblichkeit der Landschaft, die Natur und die Berge vermöchten diese Verluste nur schwer aufzuwiegen.
«Hesch mer es Lödli?»
Dennoch, einige Wörter auf Saanendeutsch kann die Berner Stadtpräsidentin noch: «Uehi und ueha, ahi und aha», für hin- und herauf, hin- und herunter. Auch das ihr zuerst unbekannte «Lödli» brauche sie hin und wieder: «Hesch mer es Lödli?» Gerne erinnere sie sich auch an die Mäuseschwänze, die ihr Bruder Anneli Frautschi brachte und der damit Geld verdiente. Gefragt nach dem berühmten letzten Satz sagt Marieke Kruit: «Ich wünsche uns allen viele gute und interessante Begegnungen zwischen Stadt und Land im neuen Jahr.»
MARIEKE KRUIT – SEIT DEM 1. JANUAR 2025 BERNER STADTPRÄSIDENTIN – ÜBER SICH SELBST
Ich bin im kleinen Dorf Turbach im Berner Oberland aufgewachsen. Meine Eltern sind aus den Niederlanden in die Schweiz gekommen und haben im Turbach ein einfaches Hotel geführt. Im Turbach habe ich Deutsch gelernt und die Schule besucht, im Tourismusbüro in Schönried die KV-Lehre gemacht.
In Bern lebe ich, seit ich berufsbegleitend die Matura nachgeholt habe. In Bern habe ich auch Psychologie und Psychotherapie studiert. Ich habe lange in leitenden Positionen in den Psychiatrischen Diensten der Regionalspitäler Thun und Oberaargau gearbeitet. Unter anderem habe ich mit Kolleginnen und Kollegen mehrere ambulante Angebote aufgebaut und geleitet. In meiner Freizeit bin ich in der Natur unterwegs, koche gern und geniesse mit meinem Partner und mit Freundinnen und Freunden das Leben in Bern, die Aare, die guten Restaurants, das Kulturangebot.
Während acht Jahren habe ich die SP im Stadtrat vertreten, vier Jahre davon als Fraktionschefin. Im November 2020 haben mich die Bernerinnen und Berner in den Gemeinderat gewählt, seither amte ich als Direktorin Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün. Gemeinsam mit circa 750 Mitarbeitenden setze ich mich dafür ein, dass sich alle Menschen gerne im öffentlichen Raum aufhalten – mit sicheren Fuss- und Velowegen, attraktiven Plätzen und Strassen, einem gut ausgebauten Netz von Bussen und Trams sowie einer klimafreundlichen und artenreichen Umgebung. Ich bin überzeugt, dass der Dialog zu guten Lösungen führt. Die enge Zusammenarbeit mit allen Beteiligten lohnt sich immer.