Mit 500 Schafen «z Bärg»
17.11.2023 PorträtRund 500 Schafe im Sommer auf der Alp zu sömmern – keine leichte Aufgabe für Familie Reichenbach. Doch mit vereinten Kräften ist alles möglich.
SONJA WOLF
Das Haus ist gar nicht so leicht zu finden. Malerisch gelegen zwischen den ...
Rund 500 Schafe im Sommer auf der Alp zu sömmern – keine leichte Aufgabe für Familie Reichenbach. Doch mit vereinten Kräften ist alles möglich.
SONJA WOLF
Das Haus ist gar nicht so leicht zu finden. Malerisch gelegen zwischen den Bäumen Richtung Lauenensee. Auf jeder Stufe der Treppe zur Wohnung hinauf stehen mehrere Paare Kinderschuhe, ordentlich aufgereiht. In der Wohnung oben angekommen begrüssen mich sofort die Besitzer der Schuhe: fünf neugierige Kinder, die einen auskunftsfreudiger, die anderen schüchterner. Und dann treten auch schon die Eltern ins gemütliche Esszimmer – Daniel und Olga Reichenbach. Nach den ersten Worten schon wird deutlich: Das Leben der Grossen und auch der Kleinen dreht sich zu einem bedeutenden Teil um eines: um Schafe!
«Wir sind im Sommer mit knapp 500 Schafen ‹z Bärg›», sagt Daniel Reichenbach. So viele? Ob das alles seine seien? «Nein, nein. Wir selbst haben zusammen mit den Lämmern im Frühling etwa 80 Stück. Es sind schwarzbraune Bergschafe.» Und seine Frau Olga ergänzt: «Im Jahr 2016 haben wir den landwirtschaftlichen Betrieb meiner Eltern mit einer Nutzfläche von sechs Hektar und circa 30 Muttertieren übernommen.» Und der Rest der 500 Tiere? Der sei allmählich dazugekommen. Erst brachten ihnen Schafbauern aus der Umgebung ihre Tiere zum Sömmern, inzwischen kommen Schafbauern mit ganzen Lastwagenladungen aus den Kantonen Nidwalden, Luzern, Thurgau und Bern, um den Reichenbachs zwischen Juni und September ihre Schafe anzuvertrauen. «Mit den Schafen bewirtschaften wir weit oben eine Fläche, die sonst praktisch niemand mit Kühen bewirtschaften könnte.»
Schafhirte nennt sich Daniel Reichenbach selbst, ganz traditionell und unprätentiös.
Fast andächtig lauschen auch die Kinder den Erzählungen ihrer Eltern. Geht es doch um «ihre» Schafe und auch ihr eigenes Er-Leben rund um ihre Freunde. Alle fünf sitzen mit am grossen Esstisch, essen Kekse und folgen gespannt den Erzählungen der Eltern. «Unser Leben im Sommer ist von langen Arbeitstagen geprägt», fährt Papa Daniel weiter. «Ich bin vier bis fünf Tage in der Woche oben, zum Heuen komme ich ins Tal. Dazwischen gehe ich auch einen Tag zur Arbeit als Zimmermann, oder gehe den Arbeiten auf dem Heimbetrieb nach.» Bei seiner Arbeitsstelle, der Zimmerei Reichen in Lauenen, hat man sich an den unterschiedlichen Sommer-Winter-Rhythmus des Schafhirten gewöhnt und zeigt Verständnis dafür.
Diesen Sommer blieb Daniel häufig über Nacht «z Bärg». «Das geht inzwischen tipptopp, weil ich eine mobile Hirtenunterkunft gebaut habe, welche wir zu Beginn des Sommers mit dem Helikopter hinauffliegen und im Herbst wieder zurück ins Tal. So können wir alle zusammen einige Tage dort verbringen», erzählt Daniel. Bis ganz an die Hütte heranfahren kann man freilich nicht. Aber es ist jedes Mal eine schöne Wanderung von einer knappen Stunde, auf der auch die Kinder ihre Rucksäcke mit dem Nötigsten tragen. Denn die frischen Dinge, die nicht per Helikopter angeliefert wurden, bringen die Reichenbachs per pedes hinauf. «Auch das Trinkwasser», sagt Daniel Reichenbach mit seinem sympathischselbstlosen Lächeln.
Ansonsten wartet «z Bärg» aber natürlich viel Arbeit auf die Familie. Und Angestellte haben sie keine. Wie ist das zu schaffen bei 500 Schafen? «Das geht nur, weil die ganze Familie mithilft», sagt Olga mit einem dankbaren Seufzer und gibt der kleinen Lara ihr Wassertrinkfläschchen in die Hand. Daniel macht die Hauptarbeit, sie selbst arbeitet im Sommer fleissig mit, die Eltern und Schwiegereltern schauen nach den Kindern, und viele andere aus der grösseren Familie und dem Freundeskreis bieten ebenso ihre Hilfe an.
Denn es ist nicht nur damit getan, wenigstens alle zwei Tage nach den Schafen zu sehen. Elf Kilometer dreireihiger Elektrozäune müssen aufgestellt und im Herbst wieder abgebaut werden, die 500 Tiere müssen spätestens alle zwei Wochen auf eine andere Weide getrieben und der Futterautomat der Herdenschutzhunde regelmässig aufgefüllt werden.
Denn seit Anfang des letzten Jahres hat der Schafhirte Daniel zwei Maremmano-Abruzzese-Hunde. Die waren nötig geworden, weil die Herde auf der Alp inzwischen grosse Ausmasse angenommen habe. «Ausserdem hält der Kanton die Alp mit Zäunen alleine nicht für ausreichend geschützt. Und es wurden in der Gegend wieder Wölfe gesichtet.» An dieser Stelle wird Daniel Reichenbach ganz ernst. Einfach sei es mit den Hunden nicht immer. Es brauche zwei bis drei Jahre, bis sich das Zusammenspiel zwischen Hunden und Schafen eingependelt habe. «Aber die Tiere sind in Zukunft unabdingbar!»
Kommt bei so viel Schafpflege nicht das Familienleben zu kurz? Bei Reichenbachs hat man diesen Eindruck weniger. Mutter Olga hat zwar eine Detailhandelsausbildung, arbeitet aktuell aber nur aushilfsweise bei der Bäckerei Wehren in Schönried mit. Ansonsten hat sie die Schafe und ihre fröhliche Kinderschar voll im Griff. Die Kinder toben sich in und um das Haus herum aus, wo sie viel Platz haben. «Im Herbst ist die Schafschau des Schafzuchtvereins Wystätt für uns alle ein schöner Ausklang des Sommers. Wir schauen dann mit viel Dankbarkeit und Wehmut auf das Erlebte zurück», sagt Daniel. Und im Winter steht für die Kinder Schlitteln, Iglu bauen und Skifahren auf dem Programm. Auch für Papa Reichenbach? «Nein, nein», winkt der lachend ab und auch die Kinder schauen sich mit einem vielsagenden amüsierten Blick an. «Ich fahre höchstens zweimal pro Jahr Ski. Lieber gehe ich Brennholz rüsten oder im Stall die Tiere beobachten!» Ganz klar: Die Schafe sind nicht nur seine Arbeit, sondern auch sein Hobby. Überzeugt sagt er: «Wenn man das nicht mit Freude und Leidenschaft macht, vor allem im Sommer mit den langen Arbeitstagen, dann geht man kaputt.»
Wir stellen Ihnen Menschen vor, die jenseits der Schlagzeilen die Geschichte des Saanenlandes mitschreiben. Leute, die im Hintergrund Fäden spannen, ihr Umfeld mit ihrer Art bereichern oder ganz einfach anders sind. Die Serie rollt wie ein Schneeball durch die Region: Als Nächstes besuchen wir Beatrice Reichenbach aus Saanenmöser.
ZUR PERSON
Daniel Reichenbach hat genau wie seine Frau Olga Jahrgang 1989. Sie wohnen in Olgas Heimatgemeinde Lauenen und haben fünf Kinder im Alter von eineinhalb bis elf Jahren – vier Mädchen und einen Jungen. Zusammen übernahmen sie 2016 die Schafzucht von Olgas Eltern. Damals gingen sie noch auf der Gelten «z Bärg», 2018 dann auf der Alp Wistätt im Weidesystem «Standweide». Schon ein Jahr später wechselte Reichenbach auf «Umtriebsweide», vergrösserte die Weidefläche auf 110 Hektar und richtete Regenwasserfassungen ein, um die Schafe überall mit Wasser zu versorgen.
Daniel Reichenbach kommt aus Gstaad. Praktische Erfahrungen in der Landwirtschaft sammelte er schon als Kind bei Verwandten und später bei einem sechsmonatigen Aufenthalt auf einer kanadischen Farm. Zusätzlich absolvierte er den Nebenerwerbskurs auf dem Hondrich. Er ist Mitglied im Schafzuchtverein Wystätt.
SONJA WOLF