Mit dem Einkaufswagen von Flumenthal nach Moskau
24.02.2023 NachbarschaftEs weckt schon einmal Interesse, wenn sich jemand zu Fuss von der Schweiz Richtung Moskau aufmacht, allein schon deshalb, weil diese Strecke wohl kaum in einem Ranking der schönsten Routen der Welt zuoberst anzutreffen ist. Wird diese Distanz von 3392km jedoch in Begleitung eines ...
Es weckt schon einmal Interesse, wenn sich jemand zu Fuss von der Schweiz Richtung Moskau aufmacht, allein schon deshalb, weil diese Strecke wohl kaum in einem Ranking der schönsten Routen der Welt zuoberst anzutreffen ist. Wird diese Distanz von 3392km jedoch in Begleitung eines Einkaufswagens zurückgelegt, will man definitiv mehr wissen! So wollten am 15. Februar im Gemeindesaal Zweisimmen gegen 50 Personen aus erster Hand von Christian Zimmermann erfahren, was seine Beweggründe waren, diesen Weg im Jahre 2019 in 111 Tagen zurückzulegen.
Neben dem 54-jährigen Weltenbummler und Autor Christian Zimmermann stand zweifellos auch sein Einkaufswagen, liebevoll Mrs. Molly genannt, im Fokus der rund zweistündigen Livereportage.
Was sich in den Jahren definitiv zu einer emotionalen Bindung zwischen den beiden entwickelte, begann 2016 in Darwin, Australien, vor einem Supermarkt rein zweckmässig und unspektakulär: Christian plante auf Schusters Sohlen die Durchquerung Australiens von Darwin bis Adelaide. Da im australischen Outback nicht alle zwei Kilometer ein Supermarkt oder Tankstellenmarkt auftauchte, war die Logistik eine echte Herausforderung. Neben Zelt, Schlafsack, Kleidern und Lebensmitteln mussten auch rund 35 Liter Trinkwasser als Reserve mittransportiert werden. Was eignete sich hierfür besser als Transportmittel, als ein Einkaufswagen?
«Trolleyman», wie Christian von den Einheimischen oft genannt wurde, konnte sich, in Adelaide angekommen, nicht mehr von seiner Weggefährtin trennen und verschiffte Mrs. Molly kurzerhand Richtung Heimat.
Harziger Start Richtung Moskau
Am 5. Mai 2019 war es dann so weit und das nächste Grossprojekt, von langer Hand geplant, fand seinen Beginn im solothurnischen Flumenthal. Mrs. Molly war ebenfalls auf Vordermann gebracht worden, und los ging die Reise, dies unter grossem medialem Interesse sowie in Anwesenheit von Freunden und Bekannten.
Doch Christian war nicht fit. Eine Grippe plagte ihn und das regnerische Wetter machte ihm zu schaffen. Als gelernter Landschaftsärtner für ihn normalerweise keine Tragödie, doch die Umstände veranlassten ihn bereits am vierten Tag nach dem Grenzübertritt nach Deutschland dazu, eine Unterkunft zu buchen. Dies war aber die Ausnahme, normalerweise wurde im Zelt übernachtet. Christian machte auch die Erfahrung, dass es sich lohnt, genügend Zeit in die Platzwahl des Zeltes zu investieren. Einmal schlug er sein Zelt unbewusst in der Nähe eines Hochsitzes während der Jagd auf, wo er folglich durch die Jäger freundlich aufgefordert wurde, aus Sicherheitsgründen sein Zelt anderswo aufzubauen.
Zeit für Sehenswürdigkeiten
Der ganze Trip war kein Rennen. Christian legte pro Tag durchschnittlich 30 Kilometer zurück, dies bei einer Gehgeschwindigkeit von rund sechs Stundenkilometern. Voraussetzung waren natürlich «Mrs. Molly taugliche» Fahrbahnen, welche nicht immer zur Verfügung standen. So gelangte er auch mal an Grenzen. Beispielsweise einmal, als er, von Mücken umschwärmt, den Einkaufswagen mühsam einen holprigen und mit Wurzeln übersäten Weg hinaufschob, bzw. zog, und Mrs. Molly dennoch aus dem Gleichgewicht geriet und samt Inhalt (ca. 90kg) im Gebüsch landete.
Die Reise ging der Donau entlang weiter Richtung Wien. Dort traf er sich mit seiner Lebenspartnerin Helen, mit welcher er die Sehenswürdigkeiten der österreichischen Hauptstadt während zwei Tagen bewunderte. Weiter ging es Richtung Polen, wo er einen Umweg zum denkwürdigen ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz machte.
Sehr eindrücklich war auch die litauische Hauptstadt Vilnius, welche aufgrund des barocken Baustils sowie der über 50 Kirchen als «Rom des Ostens» bezeichnet wird und seit dem Jahr 1994 zum Unesco-Welterbe gehört.
Das Ziel vor Augen
Nach dem Passieren der Grenze Lettland/Russland, waren es «lediglich» noch knapp 600 Kilometer bis zum Ziel Moskau. Die Landschaft schön, die Fahrbahnen einigermassen intakt und der rollende Verkehr brandgefährlich, so lässt sich der letzte Abschnitt der Reise in etwa zusammenfassen. Höhepunkt an Gefährlichkeit war definitiv der letzte Abschnitt im Stadtgebiet von Moskau, welcher Christian und Mrs. Molly unausweichlich über eine achtspurige Autobahn in das Zentrum der russischen Hauptstadt führte.
Emotionen kamen bei Christian nach dem Erreichen seines Zieles nur zögerlich auf. Irgendwie war für ihn die Reise noch nicht zu Ende … Nach einigen Tagen in Moskau, inklusive einer offiziellen Einladung der Schweizer Botschaft vor Ort, traten Christian und Mrs. Molly nach einigen Schwierigkeiten am Flughafen die Reise Richtung Heimat an. Nach 4’240’000 Schritten, 30’000 Höhenmetern, 3392 Kilometern Distanz, 111 Marschtagen durch acht Länder und vier Zeitzonen ging für Christian Zimmermann ein weiteres Abenteuer zu Ende.
Die Motivation
Zimmermann liebt das «langsame» Wandern. Er hat keinerlei Verständnis für Reisende, welche in zwei Wochen von Hotspot zu Hotspot eilen, um möglichst viel zu sehen, und dabei nie ein Wort mit einem Einheimischen wechseln.
So hatte er auch auf dieser Reise unzählige Begegnungen und wurde spontan zu einem Polterabend, einer Hochzeit und zu einem Gottesdienst eingeladen. Viele Begegnungen auf der Strasse fanden ihre Fortsetzung am Küchentisch der jeweiligen Leute, wo man sich austauschte. Oftmals auch mit Händen und Füssen, da besonders in den baltischen Staaten die englische Sprache nicht jedermanns Sache war.
Im Weiteren ist Zimmermann überzeugt, dass es jedem Menschen guttut, ab und zu die Komfortzone zu verlassen. Man lernt anschliessend wieder viel mehr, zu schätzen, was man hat.
Nächste Ziele
Christian ist schon viel auf der Welt herumgekommen. Bei Auswahlkriterien für künftige Reisen spricht er von persönlichen «weissen Flecken», also von Ländern oder Routen, welche er noch nie bereist hat. Er habe tausend Ideen im Kopf. Er könne sich vorstellen, zu Fuss Island zu umrunden oder von Flumenthal nach Teheran zu wandern. Ob er auf diesen Reisen auch von Mrs. Molly begleitet wird, lässt er noch offen. Jedenfalls darf man sich schon heute auf weitere interessante Abenteuerberichte von Weltenbummler Christian Zimmermann freuen.
UELI ZÜRCHER