Mohamed Abdifatah ist im Saanenland angekommen
10.05.2024 PorträtDer Äthiopier Mohamed Abdifatah liebt seinen Beruf als Gipser und probiert alles aus, was sein neues Heimatland Schweiz so zu bieten hat – einschliesslich Jassen und Mundartsongs. Dabei hätte es auch anders kommen können: Das Schlepperboot, auf dem er nach Europa gekommen ...
Der Äthiopier Mohamed Abdifatah liebt seinen Beruf als Gipser und probiert alles aus, was sein neues Heimatland Schweiz so zu bieten hat – einschliesslich Jassen und Mundartsongs. Dabei hätte es auch anders kommen können: Das Schlepperboot, auf dem er nach Europa gekommen ist, wäre fast gekentert.
Stuckaturen, Gölä und Jassen
Der Äthiopier Mohamed Abdifatah liebt seinen Beruf als Gipser und probiert alles aus, was sein neues Heimatland Schweiz so zu bieten hat – einschliesslich Jassen und Mundartsongs. Dabei hätte es auch anders kommen können: Das Schlepperboot, auf dem er nach Europa gekommen ist, wäre fast gekentert.
SONJA WOLF
«Was die Arbeit als Gipser hier im Saanenland absolut magisch macht, ist die Kombination aus Gips und Holz.» Die Augen von Mohamed Abdifatah, den hier alle Mo nennen, leuchten. Man merkt förmlich, wie sehr ihm seine Arbeit gefällt. Es sind gerade diese speziellen regionaltypischen Arbeiten, die es ihm angetan haben. «Stuckaturen, Rosetten und Simse zu erstellen oder auch die natürlichen Verputzarbeiten mit Antikputz oder Jurastein – das gibts in Aarau oder Bern nicht. Das macht unglaublich Spass! Ich würde nicht gerne tauschen.» Das muss er auch gar nicht, hat er sich doch gerade erst im vergangenen September im Saanenland niedergelassen. Und sich bereits sehr gut eingelebt. Der 23-jährige gebürtige Äthiopier hat einen festen Arbeitsvertrag, kann mit dem Firmenwagen von der Baustelle heim zu seiner geräumigen Mietwohnung im Grund fahren und geht am Wochenende gerne zum Wandern in die Berge oder auch mal in den Ausgang mit den Kollegen. «Ich habe einfach Glück gehabt», sagt er ganz bescheiden.
Hochmotiviert
Man könnte es allerdings auch anders nennen: Mo Abdifatah fühlt sich sehr wohl in der Schweiz und ist höchstmotiviert. Er will es einfach schaffen, weit weg von der Heimat. Beruflich und auch sozial. Schwer macht es der junge Mann seinen Zeitgenossen nicht bei seinem Integrationsprozess: Er lacht viel, ist freundlich und aufgeschlossen gegenüber Neuem. Diskriminierung? – Fehlanzeige. «Bisher habe ich keine negativen Erfahrungen gemacht», sagt er in bestem Deutsch.
Seit 2016 lebt er in der Schweiz und stachelt sich immer wieder selber zu Höchstleistungen an: «Ich könnte noch mehr erreichen. Mein Deutsch könnte noch ‹chli› besser werden!»
Traumatische Überfahrt
Leicht hatte es der junge Mann bisher nicht in seinem Leben. Er kommt aus einer Patchworkfamilie in Äthiopien und wuchs bei seinem Grossvater auf. Nachdem dieser gestorben war, brach seine kleine Welt zusammen. Aus verschiedenen Gründen, an die er sich nicht gerne erinnert und die er auch fürs Interview nicht wieder hervorholen will, musste er ab da alleine schauen, wo er bleiben konnte. Er konnte nicht einmal mehr die Schule beenden. Er wollte einfach nur weg.
Ziel war dabei nicht primär die Schweiz. Der damals erst 15-jährige Mo ging zuerst in die Hauptstadt Addis Abeba, dann nach Kairo, Ägypten, wo er sich jeweils ein paar Monate mit Hilfsjobs durchschlug. Von dort aus unternahm er viele Versuche wegzukommen.
Und schliesslich klappte es – auf einem überfüllten Schlepperboot, das schon am ersten Tag fast umgekippt wäre. «Ich bin so dankbar, dass ich noch lebe... Ich konnte damals nicht einmal schwimmen!», berichtet er von diesem aufwühlenden Erlebnis. Nach mehreren Tagen fast ohne Nahrung und Wasser ortete ein Helikopter das Boot schliesslich von oben. Und nachdem klar war, dass keine Waffen an Bord waren, wurden alle Passagiere auf ein grosses Schiff gerettet und nach Sizilien gebracht, wo er zunächst einmal seine Fingerabdrücke hinterlassen musste. Weiter ging es nordwärts per Bus.
In der Schweiz «gestrandet»
Sein Ziel: Nordeuropa. Allerdings stoppten ihn in Chiasso die Zollbeamten. Da er keinen Pass hatte, schickte man ihn nach Bern, und dann schliesslich in ein Auffanglager in einem kleinen Dorf im Aargau. «Es war furchtbar!», erinnert er sich mit einem Schaudern. «Als Minderjähriger musste ich dort mit Hunderten von Erwachsenen zusammen in einer riesigen Halle hausen, die Duschen benutzen usw. Ich hatte niemals Ruhe, das war echt krass!»
Bei der Ausländerbehörde musste er sich Interviews unterziehen. Die Schlepper hatten den Flüchtlingen beigebracht, was sie sagen sollten, um nicht wieder abgeschoben zu werden. Doch Mo entschied sich schlicht und einfach dafür, die Wahrheit zu erzählen. Und durfte bleiben.
Fortan wurde alles leichter. Mo lebte nun in einem Flüchtlingsheim in Suhr bei Aarau. Er bekam 63 Franken wöchentlich zum Leben und soliden Schulunterricht. Mathe, Allgemeinbildung und vor allem viel Deutsch. Er absolvierte verschiedene Schnuppertage als Schreiner, Detailhändler, Gartenbauer. Aber es war das Schnuppern bei den Gipsern, das ihn vom ersten Moment an begeisterte. Und so begann er nach der erfolgreich abgeschlossenen Schule eine Gipserlehre in Aarau.
Was führt einen jungen Äthiopier nach Gstaad?
An der Berufsschule in Wallisellen lernte er Adrian Büttler kennen, der beim internationalen Berufswettbewerb WorldSkills 2022 in der Kategorie der Gipser/Trockenbauer eine Bronzemedaille erringen konnte (wir haben berichtet). Und der vom Gstaader Gipsermeister Rudolf Mösching darauf vorbereitet wurde. Mösching fungiert auch als Chefexperte bei den WorldSkills, weiss also genau, worauf es bei einem guten Gipser ankommt. Mo Abdifatah imponierten diese Berichte seines Kollegen. Genau bei diesem Lehrmeister wollte auch er arbeiten. Allerdings verstand er seinen Kollegen Adrian Büttler falsch: Anstatt «Gstaad, Bern» hörte er «Stadt Bern». Und wunderte sich dann, dass sein Arbeitsort letztlich doch ein Dorf namens Gstaad in den Bergen sein sollte, und dazu noch recht weit weg von Aarau! Doch er kam trotzdem zum Vorstellungsgespräch und war direkt beeindruckt von der Qualität der Arbeit hier im Saanenland. Und von Rudolf Möschings bescheidener Art, obwohl der doch Weltmeisteranwärter trainiert.
Absolut eingetaucht in die Schweizer Welt
Und wie geht es ihm jetzt? «Es ist sehr schön hier!», zieht er eine erste Zwischenbilanz. «Die Arbeit passt mir und die Menschen sind supergut.» Auch die Freizeitgestaltung hat er schon fest im Griff. In seinem ersten Winter hier hat er bereits die Berge im Saanenland unsicher gemacht. Skifahren hat er bereits in seiner Zeit in Aarau gelernt. Ein Ehepaar mit zwei Kindern hatte sich dank des Aufrufs einer wohltätigen Organisation dazu bereit erklärt, den minderjährigen Flüchtling als Patenkind aufzunehmen. Vor vier Jahren nahm ihn das Paar, das inzwischen wie sein Götti und seine Gotte sind, nach Graubünden mit und bezahlte ihm eine Skiwoche mit Skilehrer. Das gab den Durchbruch. «Mein Götti fährt Skirennen und ich immer hinterher! Ich fahre gern sehr schnell», sagt er mit seinem verschmitzten Lächeln.
Dank seines Göttis hat er auch schwimmen gelernt. «Jetzt mag ich das Wasser!», sagt er, was nach seiner traumatischen Überfahrt auf dem Schlepperboot nicht selbstverständlich zu sein scheint. «Ich war sogar eisbaden im Genfersee in Montreux oder auch schwimmen in der Limmat vor zwei Jahren im März. Da sind wir sogar von einer Brücke gesprungen.»
Schlittschuhlaufen, Kanufahren, Fussball, Volleyball oder Unihockey – es gibt kaum einen Sport, den er hier in der Schweiz noch nicht praktiziert hat. Und hier im Saanenland hat er sogar schon an einem Jasswettkampf teilgenommen und einen Curlingkurs gemacht. «Jemand aus dem Büro hatte gefragt, ob ich Lust hätte mitzumachen – und ja! Warum nicht? Ich entdecke gerne neue Sachen», sagt der junge Gipser.
Bezüglich seines neuen Schweizer Musikgeschmacks scheint der Äthiopier «total verloren». So jedenfalls necken ihn seine Kollegen scherzhaft. «Denn ich höre gerne Mundartpop und -rock. Polo Hofer, Gölä, Züriwest», sagt er lachend.
Und was bringt die Zukunft?
Der Gipserberuf ist für den jungen Mann die absolute Leidenschaft: «Ich finde den Beruf sehr faszinierend und möchte in diesem Bereich gerne noch mehr wissen und erreichen.» Am liebsten schon ab diesem Sommer in der Vorarbeiterschule in Wallisellen. Seinen Chef Rudolf Mösching freut das: «Ich unterstütze gerne motivierte Berufsleute, die sich weiterbilden wollen. Es ist schön, wenn man seinen Beruf mit Leidenschaft ausübt und die Zielstrebigkeit hat, sich weiterzubilden. Wir brauchen Fachkräfte, auch in der Zukunft», sagt er, auf die Pläne seines ehrgeizigen Mitarbeiters Mo angesprochen.
Und besteht eine Option, nach Äthiopien zurückzukehren? «Um meine Mutter und meine vier Halbgeschwister zu besuchen, gerne. Aber für immer kann ich mir nicht vorstellen», sagt er bestimmt.
Denn der Vielvölkerstaat Äthiopien mit seinen 120 Millionen Einwohnern, seinen über 90 ethischen Gruppen und ebenso vielen Sprachen werde von Clans beherrscht. «Und wenn dein eigener Clan nicht stark genug ist, dann ist es nicht leicht, einen Job zu bekommen», bedauert Abdifatah. In dieser Hinsicht bevorzugt er die Schweiz, wo man etwas erreichen könne, wenn man es nur wolle und wenn man sich anstrenge. Unabhängig von der Herkunft.