Zwei Räder, grenzenlose Distanzen: Die Lebenskünstlerin auf dem Fahrrad
24.10.2024 SerieJulie von Grünigen ist nicht nur begeisterte Radsportlerin – für sie geht es weiter, es ist eine Lebensphilosophie. Von den Anfängen in ihrer Kindheit bis hin zur heutigen spirituellen Verbundenheit: Die Ausdauerathletin ist auf zwei Rädern zu Hause.
...Julie von Grünigen ist nicht nur begeisterte Radsportlerin – für sie geht es weiter, es ist eine Lebensphilosophie. Von den Anfängen in ihrer Kindheit bis hin zur heutigen spirituellen Verbundenheit: Die Ausdauerathletin ist auf zwei Rädern zu Hause.
ELISA OPPERMANN
«Irgendwann ist es ein bisschen ausgeartet», lacht die junge Athletin Julie von Grünigen (29) über sich selbst, während sie von ihrer umfangreichen und eher ungewöhnlichen Reise mit dem Fahrrad berichtet.
Angefangen hat alles in ihrer Kindheit. Als Tochter von zwei ebenfalls begeisterten Ausdauersportlern wurde von Grünigen schon in jungen Jahren an verschiedene Sportarten in der Natur herangeführt. «Ich war eigentlich nie so kompetitiv, aber ich hatte immer den Drang, mich zu bewegen», sagt sie in Retrospektive auf ihre Kindheit, die sie im Saanenland verbracht hat. Richtig gepackt habe es von Grünigen, als sie mit ihrem Vater als Zuschauerin zum Ironman nach Hawaii flog. «Diese unglaubliche Leistung, die Emotionalität – allein die Tatsache, dass Menschen in der Lage sind, so etwas zu vollbringen – das alles hat mich in einen Bann gezogen.» Kaum von ihrer Reise zurückgekehrt, entschied sie sich, bei einem Triathlon mitzumachen. Anfangs war es ein Triathlon der «Short-Distance-Kategorie» in Murten, den sie mit einem ausgeliehenen Rennrad absolvierte.
Daraufhin folgte der erste Ironman in Maastricht, bei dem von Grünigen sich direkt für die Weltmeisterschaften auf Hawaii qualifizierte. Nachdem sie sich zweimal beim Ironman auf Hawaii behauptet hatte, spürte die Athletin, insbesondere während der Coronapandemie, dass ihr Herz doch eher fürs Radfahren schlägt: «Ich habe zu mir selbst gesagt, wieso quäle ich mich gesundheitlich in Disziplinen wie dem Laufen, wenn ich eigentlich sowieso nur Fahrrad fahren möchte?»
Ultra-Cycling – Die Königsdisziplin des Ausdauerradsports
«Ich dachte immer, ich kann nur Rennrad fahren, aber das stimmt gar nicht», erzählt Julie von Grünigen. Vor kurzem wagte sie sich erstmals auf ein Gravelbike – ein robustes Fahrrad, das speziell für unbefestigte Wege wie Schotter- und Waldwege konzipiert ist – und entdeckte dabei, dass ihr das sogar noch mehr Spass macht. Ihr Weg führte über den Ironman zum Rennrad und schliesslich zum Ultra-Cycling – einer Disziplin, bei der sie tagelang auf Bergstrecken völlig auf sich alleine gestellt ist, ohne jegliche Unterstützung. Anfangs bereitete ihr diese Vorstellung Sorgen, doch sie stellte schnell fest, dass sie überraschenderweise keine Angst verspürte. Ultra-Cycling ist eine extreme Variante des Radsports, bei der Distanzen von mehreren hundert bis tausenden Kilometern zurückgelegt werden. Dabei sind die Fahrer oft tagelang unterwegs und müssen sich, wie auch Julie von Grünigen, ohne externe Unterstützung durchschlagen.
Letztes Jahr nahm sie zum ersten Mal an einem Ultra-Cycling-Rennen, dem «Les Géants», teil. Dieses Rennen führt die Teilnehmer durch die beeindruckende Berglandschaft der französischen Alpen. Es zeichnet sich insbesondere durch extrem lange Etappen und viele Höhenmeter aus. Dieses Jahr stellte sich von Grünigen der Herausforderung des «Three Peaks Bike Race». Als Ziel für 2025 steht bei ihr das «Atlas Mountain Race» im Kalender. Die Teilnehmenden solcher Events wie dem Tour-Divide-Rennen oder dem Atlas Mountain Race müssen nicht nur körperliche Ausdauer, sondern auch mentale Stärke beweisen, erklärt von Grünigen: «Das Tour Divide Rennen ist für mich langfristig das grösste Ziel, 4000 km off-road durch die USA – ein Wahnsinn – es ist aber auch das Rennen, welches mir am meisten Angst macht.» Besonders herausfordernd sind der Schlafmangel und die extremen Wetterbedingungen, denen die Fahrer:innen ausgesetzt sind. Diese Form des Radfahrens erfordert neben technischer Fertigkeit und Durchhaltevermögen auch die Fähigkeit, sich mental auf diese Herausforderungen einzustellen, erklärt sie weiter.
Die extremen Wettkämpfe des Ultra-Cyclings verlangen Disziplin auf höchstem Niveau. Für Julie von Grünigen ist das Radfahren jedoch weit mehr als nur Training – es ist für sie eine fast spirituelle Erfahrung, bei der sie im Alleinsein Kraft schöpft. Unter der Woche trainiert sie so oft wie möglich, auch wenn es manchmal erst nach der Arbeit bis spät in die Nacht gelingt. Die Wochenenden nutzt sie, um sich selbst zu belohnen, oft mit besonders langen Radtouren, sei es im Tessin oder auf einer ihrer bevorzugten Passstrassen. Im Saanenland hat sie ihre ganz persönlichen Lieblingsstrecken: «Ich liebe zum Beispiel die Tour von Gstaad über Montbovon zum Lac d’Hongrin nach Leysin und zurück oder ins Wallis über den Sanetschpass», wo sie gelegentlich die Gondel für den Rückweg nutzt. «Die Gondel ist natürlich optional,», sagt sie lachend, «man kann das Fahrrad natürlich auch tragen, wenn man noch ein extra Workout möchte.»
Starke Unterstützung: Familie und Freunde als Erfolgsfaktor
Während viele einen Ausgleich zum Arbeitsalltag suchen, findet die studierte Mikrobiologin im Beruf den perfekten Gegenpol zum Profisport. Auch ihre Freunde, sagt sie, tragen viel zu ihrer Balance bei. Ob es jene sind, mit denen sie bei anderen Aktivitäten den Kopf frei bekommt, oder diejenigen, die ihre sportliche Leidenschaft teilen – von Grünigen schätzt das Zusammensein mit ihnen. Besonders wertvoll ist für sie der Rückhalt ihrer Familie. Ihr Vater steht ihr stets beiseite, wenn das Fahrrad technische Aufmerksamkeit benötigt, während ihre Mutter ihr durch Meditation und Spiritualität die nötige mentale Stärke für anstehende Wettkämpfe, Herausforderungen oder auch Niederlagen vermittelt.
«REIN IN DIE PEDALE»
Wir haben sie aufgespürt, die absoluten Velo-Freaks des Saanenlandes. Die ohne Velo nicht leben können, beruflich oder privat.
In unserer Serie berichten sie uns über ihre Leidenschaft auf zwei Rädern. Also, auf gehts, in die Pedale – fertig – los!