Sankt Nikolaus: der orientalische Wohltäter, geklaute Reliquien und ein Kloster in der Wildnis
21.01.2025 SerieEs ist offensichtlich, dass die Kirche Saint-Nicolas in Rougemont und die Sankt-Niklaus-Kapelle in Gstaad etwas gemeinsam haben: nämlich ihren Schutzheiligen Sankt Nikolaus, seines Zeichens Bischof von Myra in Kleinasien und Urahne des Weihnachtsmanns. Wir verfolgen den ...
Es ist offensichtlich, dass die Kirche Saint-Nicolas in Rougemont und die Sankt-Niklaus-Kapelle in Gstaad etwas gemeinsam haben: nämlich ihren Schutzheiligen Sankt Nikolaus, seines Zeichens Bischof von Myra in Kleinasien und Urahne des Weihnachtsmanns. Wir verfolgen den abenteuerlichen Weg seines Kultes von seiner Geburtsstadt bis an den Oberlauf der Saane und wollen herausfinden, was der erste Kreuzzug, Graf Wilerius von Greyerz sowie der fromme Kluniazenser-Orden damit zu tun haben. Vorerst wird jedoch ein spektakulärer Reliquienraub aufgeklärt, der im elften Jahrhundert die christliche Welt erschütterte.
MARTIN GURTNER-DUPERREX
Am 9. Mai 1087 läuteten gemäss einer Chronik in der süditalienischen Hafenstadt Bari sämtliche Kirchenglocken Sturm. In grosser Aufregung rannten die Einwohner zum Hafen hinunter, da Seeleute gerade die Gebeine des hochverehrten Sankt Nikolaus an Land brachten. Ein paar Wochen vorher hatten sie die kostbaren Reliquien in der Stadt Myra, dem heutigen Demre in der Türkei, gestohlen. Von ihrem Schiff waren nachts 47 Mann zur Grabeskirche des Heiligen geschlichen. Sie überwältigten die Wächter, brachen mit einem Hammer das Marmorgrab auf und entwendeten den Leichnam. Anschliessend kehrten die Räuber «Gott lobpreisend» in ihre Heimat zurück. Zwar gaben sie vor, sie hätten die sterblichen Überreste vor den türkischen Muslims – welche den Ort besetzt hielten – retten wollen, doch es gab ein viel wichtigeres, wirtschaftliches Motiv: Man erwartete, dass von nun an zahlreiche Pilgerscharen die Kassen der Stadt klingeln lassen würden.
Von Bari breitete sich der Kult des Sankt Nikolaus durch Wallfahrende und Händler rasch in ganz Westeuropa aus, so im Deutschen Reich, in Burgund und Frankreich. Seine zahlreichen Kirchenpatronate – darunter eben dasjenige des Klosters Rougemont – verdankte der Heilige den Legenden, die sich seither um seine Person als Helfer in der Not und als Wohltäter rankten.
Der Kreuzzug und die Klosterstiftung
Ein paar Jahre später, um 1096, zogen im ersten Kreuzzug drei edle Ritter ins Heilige Land, um mit einem europäischen Heer Jerusalem von den Türken zurückzuerobern: der Sohn des Grafen Wilerius von Greyerz, Ulrich, dessen Neffe Hugo und ein Redbold de Mauguens. Ihre Namen werden in der sogenannten «Pancharta» von 1115 erwähnt, der nachträglichen Gründungsakte des Klosters Rougemont. Denn sie hatten dem Kloster die Erträge ihrer Güter überschrieben, bevor sie mit etwa 200 Greyerzer Gefolgsleuten nach Palästina aufbrachen, um vielleicht nie mehr zurückzukehren.
Dasselbe Dokument überliefert, dass derselbe Graf Wilerius von Greyerz – der Hauptstifter des Klosters und offensichtlich selbst Teilnehmer des Kreuzzugs –, seine Gemahlin Agathe und andere Familienmitglieder sämtliches Land zwischen Flendruz und dem Grischbach der Ordensgemeinschaft der Kluniazenser geschenkt hatten. Darin wird der Grischbach als Grenze zum deutschen Sprachraum erstmals explizit benannt. Diese Gründung passte zum Expansionsstreben der Greyerzer Grafen zu jener Zeit, denn das Land sollte nach der Schenkung weiterhin zu ihrem weltlichen Hoheitsgebiet gehören. Schon länger hatten sie von ihrer Stammburg Greyerz eine ehrgeizige, eigenständige Machtpolitik in den Voralpentälern betrieben, obwohl sie ursprünglich – noch als Grafen von Ogo – theoretisch dem burgundischen Königreich, dann dem Fürstbischof von Lausanne und schliesslich ab 1244 Savoyen, einem Vasallen des Deutschen Reichs, unterstanden.
Die «Pancharta» und die unmögliche Mission
Aufgrund der Persönlichkeiten, die in der «Pancharta» aufgeführt werden – insbesondere Papst Gregor VII. und der deutsche Kaiser Heinrich IV. –, kann der Bau des Klosters Rougemont ziemlich sicher zwischen 1073 und 1085 datiert werden. Der erste Klostervorsteher, ein Prior Johannes, hatte die ziemlich unmögliche Mission, mit ein paar Mönchen und Knechten in der Wildnis ein Gotteshaus aus Stein zu erbauen, und zwar nach dem strikten Modell der Kluniazenser: eine Kirche in Form eines Kreuzes, bestehend aus einem langen Gebäude mit Seitenschiffen sowie einem Querschiff und Chor. Und über alledem als Krönung auf dem Kreuzungspunkt ein Turm.
Es ist kaum vorstellbar, dass unter den extremen Lebens- und Arbeitsbedingungen von Beginn an solch ein komplexes Bauwerk in Rougemont umgesetzt werden konnte. Mutmasslich wurde vorerst eine bescheidenere Form gewählt, die erst allmählich vollendet wurde. So ist überliefert, dass noch um 1450 grössere Um- und Neubauten vorgenommen wurden. Die ganze Anlage umfasste schliesslich die Pfarrkirche Saint-Nicolas, zwei Kapellen, das Klostergebäude mit Kreuzgang, eine Scheune, Ställe und einen Kornspeicher.
Sorge ums Seelenheil und der Kluniazenser-Orden
Dass Graf Wilerius in der Sorge um sein Seelenheil hinsichtlich des kommenden Kreuzzugs das Kloster Rougemont den Kluniazensern überschrieb, ist nachvollziehbar. Umso mehr als die Bevölkerung in seinem Herrschaftsgebiet von Château-d’Oex, wo sich damals die einzige Pfarrkirche im Tal befand, stetig wuchs und es dringend nötig wurde, neues Land urbar zu machen. Da war es günstig, verwildertes, bewaldetes und praktisch unbewohntes Land durch eine willige Ordensgemeinschaft wirtschaftlich nutzbar zu machen.
Der Kluniazenser-Orden, dessen Mutterhaus sich im burgundischen Cluny befand, unterhielt auf seinem Höhepunkt im elften Jahrhundert in Westeuropa über 1200 Klöster, darunter 20 im Gebiet der heutigen Schweiz. Ziel der Gemeinschaft war es, das religiöse Leben zu reformieren und gemäss dem Armutsgebot des heiligen Benedikts zu leben. Da passte der wohltätige Sankt Nikolaus perfekt als Kirchenpatron in das Konzept des neuen Klosters im Pays-d’Enhaut.
In Rougemont lebten wohl von Anfang an nie mehr als drei bis vier Mönche. Neben den geistlichen Übungen wie Psalmengesang, diversen Fürbitten und Studium mussten sie sich um die Messen sowie vor allem um die Aufsicht ihrer Landwirtschaftsdomäne kümmern. Daneben fanden sie sogar Zeit, 1481 in einer der ältesten Druckereien der Schweiz zwei Bücher herauszugeben!
Unter dem Berner Bärentatzen: Klosterauflösung und Simmentaler Baukunst
Als die Tagsatzung der alten Eidgenossenschaft – zu der die Grafschaft Greyerz als zugewandter Ort gehörte – den Konkurs des Grafen Michael von Greyerz 1554 anordnete, floh dieser vor seinen Gläubigern nach Burgund. Weil die Geistlichen von Rougemont genau wussten, dass Bern als neue Besitzerin des oberen Greyerzerlandes die Reformation zwangsweise einführen würde, ergriffen sie am Weihnachtstag 1555 überstürzt die Flucht. An ihrer Stelle schickte der Berner Rat ein paar renommierte welsche Reformatoren, darunter den alten Guillaume Farel und seinen Schüler Pierre Viret, um die evangelische Lehre in der Region zu verkünden. Wie im benachbarten Saanen musste hier der Widerstand – es kam auch hier zu Gewalt – zuerst gebrochen werden, bis die neue Konfession endgültig Fuss fassen konnte.
Nach dem Dorfbrand von Saanen 1575 wurde der Sitz der bernischen Landvogtei Saanen, die ebenfalls das Pays-d’Enhaut umfasste, in das Schloss Rougemont verlegt. Dieses war auf den Fundamenten des aufgelösten Klosters erbaut worden. Das Äussere der Kirche Saint-Nicolas veränderte sich nun ebenfalls. Man vergrösserte das Chor und versah es mit drei grossen spitzbogigen Fenstern im gotischen Stil, um dem Kirchenraum besser zu erhellen. Dies wurde notwendig, weil – zwischen 1584 und 1588 – die Dachseiten des Hauptgebäudes bis zu den Seitenschiffen heruntergezogen und die oberen Seitenfenster des Mittelschiffs zugedeckt worden waren. Auch das niedrige Pyramidendach des Turms wurde durch einen hohen achteckigen Helm nach der Simmentaler Art ersetzt. Der Grund für die Umbauten: Auf den flachen Originaldächern lief das Regenwasser schlecht ab und im Winter blieb der Schnee liegen, sodass das Dachgebälke unter dauernder Feuchtigkeit litt.
Heutzutage präsentieren sich das Schloss Rougemont und die Kirche Saint-Nicolas – so wie andere historische Baudenkmäler unserer Region auch – als Mix von Bau-, Kultur- und Konfessionsstilen verschiedenster Zeitepochen, die sich während ihrer über tausendjährigen Entstehungsgeschichte gegenseitig befruchteten. Sie sind aus unserer Landschaft nicht wegzudenken und passen gut zum aktuellen multikulturellen Kontext.
Quellen: Alain Chesaux: Rougemont et son église. Imprimérie L. & S. Burri, Château-d’Oex 1980. Robert Werner: La pancarte de Rougemont de 1115. Revue historique vaudoise, volume 42 (1934). David Birmingham: Château-d’Oex – Mille ans d’histoire suisse. Editions Payot, Lausanne 2005. Erhard Gorys: Lexikon der Heiligen. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1997. Historisches Lexikon der Schweiz HLS (von Greyerz und Rougemont, Kloster).
Teil 1 (Sankt Petrus, Kirche Lauenen) ist am Freitag, 13. September 2024 erschienen.
Teil 2 (Heilige Mauritius & Joder, Kirchen Saanen und Gsteig) ist am Freitag, 1. November 2024 erschienen.
«KIRCHENHEILIGE IM SAANENLAND»
In der dreiteiligen Serie geht es um die Kirchenheiligen unserer Region. Beleuchtet werden nicht nur ihr Ursprung, ihre Bedeutung und ihr Weg hierher, sondern auch der geschichtliche Kontext über unseren Tellerrand hinaus.
Teil 1: Sankt Petrus, Kirche Lauenen
Teil 2: Heilige Mauritius & Joder, Kirchen Saanen und Gsteig
Teil 3: Sankt Nikolaus, Kirche Rougemont und Kapälli Gstaad
SANKT NIKOLAUS: VOM BISCHOF ZUM SAMICHLOUS
Sankt Nikolaus wurde um 270 in Myra, einer Stadt in der römischen Provinz Lycia in der Türkei geboren. Als er früh seine Eltern verlor, verteilte er sein Erbe unter die Armen und gründete ein Kloster. Später wurde Nikolaus zum Bischof von Myra gewählt. Bei einer der letzten römischen Christenverfolgungen erlitt er Folterungen. Er verstarb um das Jahr 350. Eine Legende erzählt, wie drei arme Schwestern für ihre Hochzeit nicht genügend Mitgift hatten und sie sich ihr Geld als Prostituierte verdienen mussten. Da warf Nikolaus nachts heimlich drei Goldkugeln – die zu seinem Hauptmerkmal wurden (siehe Foto des Farbglasfensters im Kapälli Gstaad) – durch ein Fenster in ihr Zimmer, damit sie ehrbar heiraten konnten.
Im Volksglauben wurde Nikolaus so zum Schutzpatron der Jungfrauen und Kinder. An seinem Gedenktag am 6. Dezember verschenkte er traditionell Äpfel und Nüsse. Ab dem 20. Jahrhundert verwandelte sich sein Erscheinungsbild unter dem Einfluss der Werbeindustrie vom Bischof mit Mitra zum Weihnachtsmann oder Samichlous mit roter Zipfelmütze und weissem Rauschebart.
QUELLE: ERHARD GORYS: LEXIKON DER HEILIGEN.
DEUTSCHER TASCHENBUCHVERLAG, MÜNCHEN 1997.
DIE KLUNIAZENSER: «ORA ET LABORA»
Um 910 wurde das Kloster Cluny im französischen Burgund gegründet, um die alten Ordensregeln und das Armutsgebot des heiligen Benedikts
(480–547) wieder aufleben zu lassen. Das Motto der Kluniazenser war: «Ora et labora» – bete und arbeite. Die Benediktsregel schrieb den Mönchen einen vorbildlichen Lebenswandel sowie neben der Arbeit vielstündige Liturgien, Meditationen, Psalmengesänge und Bussübungen vor. Der Abt des Ordens wurde direkt dem Papst unterstellt und war damit weitgehend selbstständig. Die Klostervorsteher – die Priore – schuldeten ihm absoluten Gehorsam.
Die Reformbewegung verbreitete sich über ganz Europa aus. Über 1200 Klöster mit mehr als 20’000 Mönchen zählten zum Orden – darunter in der heutigen Schweiz die bekannten Klöster von Romainmôtier (gegründet 929) und Payerne (962). Nach der französischen Revolution wurde das Kloster Cluny, während Jahrhunderten eine der grössten Klosteranlagen der christlichen Welt, aufgelöst und leider bis auf ein paar Ecktürme zerstört.
QUELLE: CLUNY-ABBAYE.FR; KATHPEDIA.DE
DAS GSTAADER KAPÄLLI WIRD ZUR SCHULSTUBE
In der alten Landschaft Saanen gab es Wegkapellen, die an Wegkreuzungen oder vielbegangenen Orten standen. So u.a. in Gsteig, Lauenen, bei Saanen, im Turbachtal und in Abländschen. Sie luden vor der Weiterreise zu Gebet und Einkehr ein.
1402 konnte die Sankt-Nikolaus-Kapelle in Gstaad dank einiger Stiftungen errichtet werden. Im Türmchen hängt eine 1404 gegossene Glocke, welche u.a. mit Motiven des heiligen Nikolaus verziert ist. Bis zur Reformation wurden hier Messen gelesen, danach die Kinderlehre und Unterweisung abgehalten.
1891 funktionierte man die Kapelle in eine Schulstube um. Auf der Südseite gab es demnach eine Türe und ein Fenster. Die Originalholzdecke wurde zerlegt und dem Historischen Museum Bern vermacht. 1923, als das neue Rütti-Schulhaus seinen Betrieb aufnahm, drohte der Kapelle sogar der Abbruch. Dank dem Einsatz des Dorfarztes Hans Reber konnte sie glücklicherweise restauriert und in ihren ursprünglichen Zustand versetzt werden.
QUELLE: KLAUS VÖLLMIN: DIE ST.-NIKLAUS-KAPELLE. IN: HOLGER FINZE-MICHAELSEN, KLAUS VÖLLMIN: ALTE KIRCHEN IM SIMMENTAL UND SAANENLAND. KOPP DRUCK + GRAFIK AG,
ZWEISIMMEN, 1. AUFLAGE 2008.