Wenn der Berg ruft
04.12.2023 TurbachJeden Winter arbeitet Stephan Siegrist im Saanenland als Bergsteiger – dies seit 29 Jahren. Doch endet die Saison, macht er sich auf zu ambitionierten Berghochtouren. Als Profialpinist ist er um die Welt gekommen und hat so einige Projekte angepackt und unzählige Expeditionen erlebt. ...
Jeden Winter arbeitet Stephan Siegrist im Saanenland als Bergsteiger – dies seit 29 Jahren. Doch endet die Saison, macht er sich auf zu ambitionierten Berghochtouren. Als Profialpinist ist er um die Welt gekommen und hat so einige Projekte angepackt und unzählige Expeditionen erlebt. Vergangenen Freitag führte er im Turbach rund 150 Interessierte in seine Welt ein: Er präsentierte einenw seiner Multivisionsvorträge, bei denen er mit eigenen Fotos, Videos und vielen Geschichten im Gepäck dem Publikum einen Einblick in seinen Alltag als Bergsteiger gewährte. Diese Zeitung nahm am Vortrag teil und fragte ihn im Interview, wie es zu diesem Auftritt kam.
Wenn der Berg ruft
Bergsteiger und Bergführer, aber auch Berggänger können dem Ruf der Berge nur schwer widerstehen. Diesem Lockruf folgten gegen 150 Frauen, Männer und Jugendliche. Sie machten sich auf den Weg, um in der Turnhalle in Turbach dem routinierten Alpinisten Stephan Siegrist zuzuhören.
EUGEN DORNBIERER-HAUSWIRTH
Mit sympathischen Worten eröffnete Mario Hählen, Dorforganisation Turbach, den Vortragsabend. Er freute sich über die zahlreichen Besuchenden: «Schön, dass ihr beim herrschenden Schneetreiben den Weg ins Zentrum des Turbachtals gefunden habt.» Den Referenten des Abends, Stephan Siegrist, hiess er mit der freundlichen Anmerkung, «dass du es gewagt hast, den Weg hierhin unter die Räder zu nehmen», herzlich willkommen. Was Siegrist wagt, erfuhr das gespannte Publikum unmittelbar nach Hählens Begrüssungsworten.
Weil Bilder mehr sagen als 1000 Worte, zauberte Siegrist eine aus dem Nebel ragende, imposante Bergspitze auf die Leinwand. Mit der Frage, wer diesen Berg kenne, weckte er die Neugier des Publikums. Schweigen im Saal, obwohl manchem der anwesenden Alpinisten und Bergführer dieser majestätische Berg nicht fremd war. Möglicherweise waren auch sie in der Nähe des höchsten Berges Indiens, dem 8586 m hohen Kangchenjunga, gewesen. «Ich betrachte den Kangchenjunga sehr gerne und mit Respekt. Aber meine Leidenschaft ist, diesen Berg besteigen zu wollen.»
Geduld und diplomatisches Geschick
Stephan Siegrist nahm das Publikum mit auf die Expedition ins Kaschmirtal. Die Region grenzt an Indien, Pakistan, Afghanistan und China. Als er Kaschmir erwähnte, wurde es manchem der Anwesenden sicher warm ums Herz, weil sie in diesem Moment an ihren Pullover oder ihren Schal, gefertigt aus edlen Haaren der Kaschmirziege, dachten. Lebendig und bildhaft schilderte unser «Expeditionsleiter», wie er in dieser fremden Kultur – geprägt von langwierigen kriegerischen Auseinandersetzungen – Fuss fassen konnte. Der Umgang mit den Einheimischen und vor allem mit den staatlichen Mandatsträgern (Polizei, Beamte) erfordere viel Geduld und vor allem diplomatisches Geschick. Dank seinen ansässigen Alpinisten und Trägern (Sherpas), die er «liebe Freunde» nennt, erhält er die Papiere und Erlaubnis oft nach mehreren Tagen, um sich im Hochgebirgsraum des vorderen Himalayas alpinistisch bewegen zu dürfen. Allerdings, etwas wurde ihm strikte und unter Androhung von Gefängnis verboten: das Mittragen eines Satellitentelefons – Gefahr von Spionage!
Die Anwesenden erfuhren viel über das Handwerk von Alpinisten, die hoch hinaus wollen. Zentrale Themen sind die Vorbereitung, die Planung, die Organisation und das Rekrutieren von Trägern. Vor Ort selbst sind die Routenwahl und der Entscheid betreffend dem Aufbruch im Fokus. Diese Denkprozesse, in die uns Siegrist behutsam einweihte, bedürfen grosser Erfahrung. Der Profialpinist aus Ringgenberg bei Interlaken verfügt – aufgrund seiner jahrzehntelangen Karriere – über dieses Wissen und Können.
Enge Zeitfenster im Himalaya
Mit seiner zweiten Expedition führte Siegrist die Interessierten nach Patagonien. Diese atemberaubende Region liegt ganz im Süden des amerikanischen Kontinents. Flüsse und Seen prägen das Landschaftsbild. Die alpinistischen Anforderungen sind nicht vergleichbar mit jenen im Himalaya. Hier sind die ellenlangen und steilen Marmorwände die Herausforderung. Man tastet sich Seillänge um Seillänge aufwärts. Dabei gibt es viele und verschiedene technische Probleme zu lösen. Zudem sind die Wetterbedingungen in Patagonien sehr herausfordernd. Die engen, witterungsbedingten Zeitfenster sind eng und verlangen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. «Nicht selten kamen wir nicht vom Fleck. Manche Tage verbrachten wir mit dem Bau und Ausbau unserer Hütte», schilderte Siegrist.
Route für verunglückte Bergsteigerfreunde
Zurück in der Schweiz: Die Eigernordwand lässt Stephan Siegrist nicht los. Zu nachhaltig sind seine Erinnerungen an die Erlebnisse in der 1800 Meter hohen Nordwand. Trotz über 40 Durchsteigungen kennt man diese, mit schroffen Eisfeldern durchsetzte Wand nicht. Sie ist voller Überraschungen. Mit den sehr erfahrenen Alpinisten Thomas und Alexander Huber wollte er mit einer neuen Route den verunglückten Kletterfreunden ein Denkmal setzen. «In Memoriam», in Erinnerung an all die grossen Kletterer und Freunde, die nicht mehr unter uns sind. Siegrists Stimme wurde leise. Andächtig und respektvoll berichtete er von feinem Eisregen, von Steinund Eisschlag sowie vom Eis befreiten, blanken Platten, welche die Apinisten stets an ihre Grenzen führten. «Nach mehreren Versuchen kamen wir zur Einsicht, dass die Begehung dieser neuen Route vorerst nicht möglich ist.» Mit den Worten, diese Einsicht gehöre eben auch zu seinem Beruf, beschloss Stephan Siegrist seinen faszinierenden Vortrag.
MEINUNGEN ZUM VORTRAG AUS DEM PUBLIKUM
Rolf Mösching: «Ich erwartete einen spannenden Erlebnisbericht aus Stephan Siegrists Bergsteigerleben. Diese Erwartung hat der Referent zu meiner vollen Zufriedenheit erfüllt. Auch verschonte er uns mit reisserischen Aussagen und alpintechnischen Vorgängen. Mich bewegte, wie er über seine tödlich verunfallten Kameraden sprach. Man spürte seine Betroffenheit. Für mein tägliches Leben kann ich die folgenden Lehren ziehen: Sich stets gut vorbereiten und alle möglichen Eventualitäten in Betracht ziehen.»
Samuel Perreten: «Ich stellte mich darauf ein, dass es einen vielseitigen Vortrag geben wird. Ich kenne Stephan und freute mich auf einen bunten Blumenstrauss. Meine Erwartungen wurden vollends erfüllt. Mich beeindruckte sein Wille, etwas anzupacken, ohne dabei zu wissen, ob es letztlich funktionieren wird. Auch seine Einsicht: ‹Es geht jetzt nicht weiter, wir müssen absteigen›, finde ich beispielhaft. Für mein tägliches Leben ziehe ich folgendes Fazit: Durchhalten, an einer Sache dran bleiben; positiv bleiben, auch wenn es nicht gelingt und zum richtigen Zeitpunkt stop sagen können.»
«Es fasziniert mich, wie sich die Leute von den Bildern und Videos begeistern lassen»
Stephan Siegrist ist Profialpinist und Bergführer. Im Winter betreut er jeweils eine Familie im Saanenland, vergangenen Freitag hat er im Turbach einen seiner Videovorträge über seine Expeditionen gehalten. Ein Interview über Nervosität und die Freundschaftlichkeit von Saaner Bergführer:innen.
JOCELYNE PAGE
Stephan Siegrist, am Freitag haben Sie im Turbach einen Multivisionsvortrag über Ihre Erlebnisse als Profialpinist gehalten. Wie kam es dazu?
Ich bin seit 29 Jahren jeden Winter im Saanenland als Bergführer unterwegs, denn ich betreue hier eine Familie. Dadurch kenne ich ein paar Bergführer vor Ort, mit denen ich beispielsweise am Feierabend noch Eisklettertouren mache oder bouldern gehe. Ich wurde im Saanenland als auswärtiger Bergführer stets freundschaftlich aufgenommen, dies ist keine Selbstverständlichkeit. Eines Tages fragte mich schliesslich einer der Bergführer, Bernhard Raaflaub, ob ich Interesse hätte, einen meiner Videovorträge im Turbach zu halten. Und da habe ich zugesagt.
Als Profialpinist haben Sie die höchsten Gebirge der Welt erklommen, im Winter arbeiten Sie als Bergführer in Gstaad. Wie erleben Sie diese zwei Welten?
Wenn ich als Bergführer unterwegs bin, habe ich ganz andere Anforderungen. Ich trage Verantwortung für meine Kunden und auch die Gästebetreuung ist sehr zentral. Und diesen Wechsel schätze ich sehr.
Und im Saanenland gefällt es Ihnen auch?
Ja, sehr. Das Saannalnad bietet viele schöne Outdoorsport-Möglichkeiten. Wie schon erwähnt, geniesse ich aber auch Trainingsmöglichkeiten vor Ort. Langweilig wird es mir nicht.
Wie kam es dazu, dass Sie mit den Videovorträgen begonnen haben?
Vor rund 30 Jahren habe ich mit sogenannten Multivisionsvorträgen begonnen, bei denen ich Videos und Fotos von meinen Expeditionen zeigte und dazu Anekdoten und Geschichten erzählte. Es war eine Möglichkeit, mein Leben als Profialpinist mitzufinanzieren. Es ist insbesondere eine passende Möglichkeit, da ich dieser Tätigkeit in einer Saison nachgehen kann, in der nicht viel los ist, beziehungsweise ich mich nicht auf einer Expedition befinde.
Welche Art von Begegnungen erleben Sie, wenn Sie Ihre Vorträge halten?
Grundsätzlich fasziniert es mich, wie sich die Leute über die Bilder und Videos begeistern lassen. Ich kann Menschen eine Welt zeigen, die sie vielleicht selbst noch gar nicht erlebt haben oder vielleicht nie erleben werden, beispielsweise Eindrücke vom Himalayagebiet. Oder ich kann ihnen die Möglichkeit geben, von solchen Bergtouren zu träumen und selbst den Wunsch in sich zu wecken, andere Kulturen kennenzulernen oder Ähnliches zu erleben. Lustige Anekdoten helfen, eine gute Stimmung herzustellen.
Haben Sie immer den gleichen Vortrag oder gibt es verschiedene Programme?
Der Videovortrag, den ich im Turbach gezeigt habe, war die aktuellste Version. Darin habe ich meine neuesten Erlebnisse und Expeditionen zusammengefasst. Ich bin aber auch von Firmenanfragen abhängig. Ich darf immer wieder Vorträge für unterschiedliche Firmen oder für Privatanlässe halten. Dies sind einzelne Module, die ich auf die jeweilige Anfrage vorbereite, je nachdem, welchen Fokus sie wünschen.
Wie ist es mit der Nervosität: Gibt es die immer noch oder gewöhnt man sich, auf einer Bühne vor vielen Leuten zu stehen?
Eine gewisse Nervosität braucht es immer, damit man die Aufgabe ernst nimmt und sich gut konzentrieren kann, das ist klar. Als ich jedoch vor 30 Jahren mit den Vorträgen begonnen habe, bin ich jeweils fast gestorben vor Aufregung (lacht). Nach dem 100. Vortrag habe ich aber bemerkt, was es braucht, damit ich mit meinen Auftritten zufrieden bin.
Was hat sich verändert?
Ich erlangte allmählich Vertrauen in mein Tun und akzeptierte die Vorträge so, wie ich sie vorgetragen habe. Denn zu Beginn hatte ich eine genaue Vorstellung davon, wie diese Auftritte aussehen müssen. Es braucht eine gewisse Erfahrung, um seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und man wird gelassener.
Nun kommt erst einmal der Winter als Bergführer. Was steht auf Ihrer Agenda nach der Saison?
Ein paar Kollegen und ich haben verschiedene Projekte im Köcher. Kommenden Herbst wollen wir beispielsweise nach Zentralindien ins Himalaya-Gebiet gehen.
Der Klimawandel ist allgegenwärtig. Wie erleben Sie die klimatischen Veränderungen in Ihrem Bergsteiger-Alltag, insbesondere im Vergleich zu Ihren Anfängen im Alpinismus?
Es hat sich einiges verändert, beispielsweise sind die Zeitfenster, in denen man Bergtouren im Eis und Schnee machen kann, kürzer geworden. Grosse kombinierte Touren sind oftmals nur noch im Winter möglich, weil nur da die Sicherheit gewährleistet ist. Setzt die Wärme ein, besteht die Gefahr von Steinschlägen und die objektive Gefahr wächst. Aber nicht nur der Klimawandel ist herausfordernd, sondern auch die Entwicklung der Social Media. Die eindrücklichen Fotos von den Bergtouren werden schnell gestreut, weshalb man oftmals grosse Menschenmengen am Berg antrifft. Die Gefahr von Steinschlägen und Eisschlag wächst durch die vielen Seilschaften, die unterwegs sind. Es ist daher besondere Vorsicht geboten.