«Turbach ist zu meinem Schicksal geworden»
03.11.2025 NachbarschaftEine grosse Trauergemeinde nahm am Freitag, 24. Oktober, in der Kirche Bolligen Abschied von Sigi Amstutz. Er war von 1965 bis zu seiner Pensionierung im Juni 2003 Lehrer an der Oberstufe Turbach. Aber er war mehr als ein Lehrer. Er war ein begeisterter und begeisternder Theatermann, ...
Eine grosse Trauergemeinde nahm am Freitag, 24. Oktober, in der Kirche Bolligen Abschied von Sigi Amstutz. Er war von 1965 bis zu seiner Pensionierung im Juni 2003 Lehrer an der Oberstufe Turbach. Aber er war mehr als ein Lehrer. Er war ein begeisterter und begeisternder Theatermann, Buchautor, Kolumnist, Maler, Menschenfreund. Wir haben mit Angehörigen, Weggefährten und ehemaligen Schülern gesprochen.
ANITA MOSER
1965 kam das Lehrerehepaar Sigi Amstutz und Vera Strasser von Innertkirchen in den Turbach. Die im Laufe der Zeit wachsende Familie mit fünf eigenen und zwei Pflegekindern fühlte sich wohl und angenommen im Turbach. Hier konnte Sigi Amstutz an langjährige Traditionen anknüpfen. Schon einige seiner Vorgänger:innen haben nach dem ganzheitlichen Ansatz unterrichtet und auch das Theaterspielen hatte eine grosse Tradition. Das kam ihm entgegen, er war ein Theaterschaffender mit Leib und Seele. Unter seiner Regie brachten seine Schülerinnen und Schüler und ebenso die Erwachsenen schauspielerische Glanzleistungen auf die Bühne. Und Turbach wurde über die Region hinaus zum kulturellen Geheimtipp.
Ein grosser Verfechter der Mehrklassenschule
Sigi Amstutz war zeitlebens ein Verfechter der Mehrklassenschule. 1958, in einer Zeit des gravierenden Lehrermangels, kam er als Seminarist in den Landeinsatz. Ihm wurde die Gesamtschule Pfaffenmoos bei Eggiwil zugewiesen. «Es war ein Schreck: neun Klassen, 30 Schüler:innen!» Ein halbes Jahr hat er dort unterrichtet. «Ich war auf mich gestellt, unerfahren, oft hilflos und überfordert.» Dieses starke Erlebnis trug zu seinem Wunsch bei, einmal Lehrer an einer mehrklassigen Schule zu werden.
Und auch nach 38 Jahren an der Oberstufe Turbach war er ohne Wenn und Aber von dieser Schulform überzeugt. Gewiss sei die Qualität einer Schule nicht nur von ihrer Organisationsform abhängig, sondern lebe ganz stark vom Einsatz der einzelnen Lehrpersonen, so Amstutz. Und natürlich gebe es keine einzige Schulform, die restlos alle günstigen pädagogischen Elemente in sich vereinige. Mehrklassenschulen seien jedoch pädagogisch wertvoll, weil sie eine integrative Schulform seien, welche die nivellierende Orientierung am Klassendurchschnitt ausschliesse. «Die Mehrklassenschule kennt keine Verlierer und Gewinner; Homogenität, Selektion und Konkurrenz treten in den Hintergrund; das einzelne Kind wird nicht dauernd daran gemessen, ob es den Standards genügt, Teil- und Jahrespensen erfüllt oder nicht.»
Individuell gefördert
Familie Amstutz war im Turbach eine Institution. Ihr Haus war immer offen. Hatte man ein Problem, ein Wehwechen, ging man zu Vera Strasser. Sigi Amstutz förderte die Kinder individuell. Er gab Freifächer, weit über den Schulstoff hinaus. Er sah die Stärken jedes Einzelnen. Seinem Credo folgend «Als Gruppe funktionieren wir» förderte er Kinder jedoch nicht aktiv für den Übertritt in die Sekundarschule. Und dennoch schafften es zahlreiche seiner Schüler:innen direkt von der Primarschule ans Lehrerseminar, Gymnasium oder an eine Mittelschule. Er gab aber auch nie ein Kind an eine Hilfsklasse ab. Im Gegenteil: Man gab ihm «schwierige» Kinder aus anderen Schulkreisen in Obhut.
Lehrplänen stand er grundsätzlich kritisch gegenüber, er verglich das System mit einer Baumschule: Alle sollten Ende Jahr gleich hoch sein. «Kinder entwickeln sich aber nicht alle gleich», so Sigi Amstutz.
Er lehnte die Ausübung von Macht ab, konnte zwar streng sein, strafte aber nicht. Er hatte Disziplin – forderte diese auch ein, aber nicht mit Druck. Als Lehrer – und auch als Vater – verfügte er über eine natürliche Autorität und eine Präsenz. «Mein Vater prägte mich mit seinem Humor, seiner Herzlichkeit und seiner Begeisterung fürs Unterrichten. Besonders seine Geschichtsstunden faszinierten mich – er konnte erzählen, als wäre man selbst Teil der Ereignisse», schrieb Pflegetochter Veruschka.
Theatertradition fortgesetzt
Im Turbach wurde seit jeher Theater gespielt – an der Schule wie im Chörli. Schon beim Bau des Schulhauses vor 100 Jahren hat man eine Bühne eingebaut, später wurden die Theater in der Turnhalle aufgeführt. Mit seiner 5. bis 9. Klasse studierte Sigi Amstutz jedes Jahr ein Theater ein, mit der Theatergruppe des Chörli alle zwei bis drei Jahre eines. Er brachte im Laufe der Jahre ein grosses Spektrum der Weltliteratur auf die Bühne – Carl Zuckmayer, Charles Dickens, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Johann Nestroy, Erich Kästner, Bertolt Brecht usw. 2003 verabschiedete sich Sigi Amstutz als Regisseur mit dem Stück «d Lindouere» von seinen Schülerinnen und Schülern, seinen Abschied mit der Theatergruppe des Chörli gab er 2005 mit «Lumpazivagabundus».
Die Theaterstücke suchte Sigi Amstutz selber aus. Die Hierarchie war klar. Auch die Rollenverteilung übernahm er. Er spürte, wer für welche Rolle geeignet ist, kitzelte alles aus den Schülern und Erwachsenen heraus.
Es gab aber auch Kritiker, die fanden, das Theaterspielen in der Schule nehme zu viel Raum ein. Für Sigi Amstutz war es jedoch eine Lernmethode. Dazu ein Zitat aus einem «fiktiven» Interview mit einem ehemaligen Schüler: «Im Theater waren so ziemlich alle Fächer in irgendeiner Weise vertreten. Vorwiegend natürlich Deutsch. Da gehörten sowohl die Schulung der Ausdrucksfähigkeit, die Sicherheit im Auftreten, also die Selbstsicherheit, als auch die anderen Arbeiten am Text dazu, wie Kürzen u. ä. Ein wesentlicher Bestandteil war jeweils auch das Werken, denn wir planten die Bühnenbilder gemeinsam und stellten sie unter fachkundiger Anleitung auch selber her. Die Kostüme und Requisiten konnten wir mit Abänderungen teilweise übernehmen oder nähten sie sogar selbst. Ein ganz wesentlicher Aspekt war die Zusammenarbeit und somit die nicht zu unterschätzende Förderung der Sozialkompetenz.»
Einwöchige Schulreisen
Ein Highlight für die Oberstufe waren die einwöchigen Schulreisen. Sie führten jeweils in eine andere Region der Schweiz. Und auch diese Schulreisen waren Teil des Unterrichts: Im Vorfeld wurden die entsprechenden Regionen – Innerschweiz, Tessin, Engadin, Jura, Wallis usw. – in den verschiedensten Fächern (Deutsch, Französisch, Geschichte, Singen) vertieft behandelt. Finanziert wurden die Schulreisen durch die Theateraufführungen.
Geschenk und Gnade
«Lange bevor die grossflächig angelegten, staatlich verordneten Schulversuche, Kontrollen, Überprüfungen, Beurteilungen, Reflexionen und Optimierungsanstrengungen in Gang gesetzt wurden, waren Nachhaltigkeit, Qualität, Transparenz und Autonomie unserer Turbach-Schule für mich zentrale Themen und sind es bis zu meinem letzten Schultag geblieben», sagte Sigi Amstutz am Abschiedsfest anlässlich seiner Pensionierung im Juni 2003.
«Ich denke, dass es für meine Entwicklung wichtig und richtig war, lange an diesem Schulort zu verweilen. Wahrscheinlich hätte ich mich verzettelt, vertan, verbraucht und verloren, wäre ich nicht hiergeblieben. Das Dranbleiben, Durchhalten (auch Aushalten und Ausharren) haben mich geprägt. Turbach ist zu meinem Schicksal geworden.»
Dass sein langes Wirken zu einer positiven Lernkultur und einer soliden Schultradition geführt habe, betrachtete er in erster Linie als ein Geschenk und eine Gnade. «Dass aus dem Hierbleiben nicht ein Stehenbleiben geworden ist, verdanke ich der grossartigen Möglichkeit, mit Menschen zu arbeiten (stützen, stärken, fördern, ermutigen, Anteil nehmen, zum Schöpferischen begeistern – aber auch gemeinsam staunen, feiern, lachen…) und dabei die seelische Lebendigkeit nicht zu verlieren.» Das alles habe ihn wohl davor bewahrt, zu resignieren, auszubrennen, zum Zyniker und Spötter zu werden. «Natürlich gibt es Brüche, Risse und lange Schatten in meinem Leben, gibt es das Nichtgenügen und das bittere Scheitern. Trotz alledem ist für mein Empfinden aus dem Dableiben schliesslich etwas Rundes geworden, eine Einheit aus persönlichem Leben, Beruf, sozialem Engagement und künstlerischem Ausdruck. Das erfüllt mich mit Zufriedenheit, Zuversicht und Dankbarkeit.»
Mehrfach ausgezeichnet
Sigi Amstutz wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem 1992 mit dem Preis der Kulturszene Obersimmental-Saanenland-Pays-d’Enhaut oder mit dem Kulturpreis des Kantons Bern. 2001 wurde er mit dem Pädagogik-Preis der Peter-Hans-Frey-Stiftung ausgezeichnet. «Ein Lehrerleben lang verwirklicht er nun an seiner abgelegenen Mehrklassenschule ein pädagogisches Modell ganzheitlicher Bildungsarbeit, das weit über das kleine Schulhaus hinaus eine ganze Region kulturell bereichert und geprägt hat», betonte der bekannte Berner Troubadour Bernhard Stirnemann, jahrzehntelanger Freund von Sigi Amstutz, ebenfalls Lehrer und Theatermann, in seiner Laudatio im November 2001 anlässlich der Verleihung des Preises.
2017 gewann Sigi Amstutz den Schreibwettbewerb über das Thema «Stell dir vor, es ist Schule und alle gehen hin» mit seinem Essay «Überhört keinen Baum und kein Wasser». Beim «Der Bund-Essay-Wettbewerb» ging es darum, sich eine Schule von morgen auszudenken, an welcher alle Spass und Sinn finden. Im Siegesbeitrag von Sigi Amstutz wird hervorgehoben, dass Lernen vor allem ausserhalb der Schulstuben stattfinden kann, dass die Natur mit ihren lebendigen Botschaften oftmals der beste Lehrmeister ist.
Kolumnist, Buchautor, Zeichner und Maler
Sigi Amstutz dürfte der Leserschaft des «Anzeigers von Saanen» auch als Kolumnist bekannt sein. Während sechs Jahren, von 2007 bis 2012, hat er mit seinen Texten zum Reflektieren und Nachdenken angeregt, die Kolumnen haben aufgerüttelt und aufgewühlt, manchmal waren sie kontrovers, aber immer durchdacht. Während einigen Jahren war er auch Kolumnist im «Berner Oberländer». Viele seiner Kolumnen kamen in Buchform unter dem Titel «Die seltsame Tafelrunde» heraus. Auch die Zeichnungen im Buch stammen aus seiner Feder.
2011 erschien das Buch «Hier ist immer» vom Autorenteam Sigi Amstutz, Christian Bärtschi und Käti Jaberg. Das Buch enthält Bilder des 1966 verstorbenen Malers Angelo Molinari sowie Kolumnen von Amstutz und Bärtschi.
In den letzten Jahren hat er sich vermehrt der Malerei gewidmet.
Die Schärmtanne mitgegründet
Sigi Amstutz engagierte sich im Dorf Turbach nicht nur als Lehrer und Regisseur. Er hatte auch einen guten Draht zu den meisten Leuten – egal welcher Herkunft. So war er schon in den Anfangsjahren Sekretär der Weggenossenschaft. Und dass an der Herbstpunktierung schulfrei war, entschied er ohne Rücksprache mit dem Schulinspektorat.
Auch sozial engagierte er sich. Aus direkter Betroffenheit war er Mitinitiant des Wohnheims Schärmtanne in Schönried. Theres, das jüngste Kind, kam mit einer Beeinträchtigung zur Welt. Im Saanenland gab es bis dahin keine geeignete Institution für junge Erwachsene mit einer Beeinträchtigung. Im Januar 1995 wurde die Schärmtanne eröffnet. 2015 musste die Bergquelle diesen Standort aus finanziellen Gründen aufgeben. Die Bewohnerinnen und Bewohner zügelten nach St. Stephan, mittlerweile wohnen sie in Zweisimmen. Theres hat sich dort gut eingelebt.
Sigi Amstutz war auch ein politischer Mensch, war aber in keiner Partei. Er hat sich nicht um Ämter gerissen.
Letzter Lebensabschnitt in Bolligen
Vor 16 Jahren zog er nach Bolligen zu seiner langjährigen Partnerin Mägi Kunz. Er gab weiterhin Kurse und führte auch noch Regie. In den letzten Monaten beschäftigte er sich oft mit dem Tod, er hat auch die Abschiedsfeier mitorganisiert, bat auch seine Kinder, einen Text für seine Beerdigung zu schreiben. Den Humor hat er bis zuletzt nicht verloren. «Ich lese den Text dann gerne im Vorfeld, aber eigentlich möchte ich auch noch an meiner Beerdigung Überraschungen erleben», meinte er zu seiner ältesten Tochter Bettina.
Am 16. August ist Sigi Amstutz nach längerem Leiden gestorben. Seine Partnerin Mägi Kunz hat ihn gepflegt und umsorgt und seinen Wunsch, zu Hause zu sterben, erfüllt. Eine grosse Trauergemeinde nahm am 24. Oktober in der Kirche Bolligen Abschied von ihm. Musikalisch umrahmt wurde die Feier von seinem ehemaligen Schüler Reto Reichenbach auf dem Klavier sowie vom Trio «Café Deseado» mit Martin Amstutz, dem zweitältesten Sohn von Sigi Amstutz, am Bandoneon.
Quellen: Archiv «Anzeiger von Saanen», Mägi Kunz, Martin Amstutz, Vera Strasser, Emanuel Raaflaub, archiv-turbach.ch, Abdankungsfeier von Pfarrerin Christine Schmid
Geboren in Java
Sigi Amstutz wurde am 24. Oktober 1938 als mittlerer von drei Buben im Dorf Kelet auf der indonesischen Insel Java geboren. Seine Eltern waren Mennoniten-Missionare – sein Vater Daniel war Schweizer, seine Mutter Wera, geborene Nachtigall, Holländerin. Sigi sprach mit seinen Brüdern und den Eltern Niederländisch, mit den Einheimischen Javanesisch. Nach der Invasion durch die Japaner kapitulierte die niederländische Kolonialmacht, Japan eroberte die Inselgruppe und die Familie wurde für ein halbes Jahr an einem Ort namens Solo interniert. Als Sigi siebenjährig war, übersiedelte die Familie in die Schweiz, auf den Montbautier im Jura. Dort besuchte er die Schule, eine Gesamtschule, das und sein damaliger Lehrer Alfred haben ihn geprägt.
Er absolvierte das Lehrerseminar Bern-Hofwil und unterrichtete einige Jahre in Innertkirchen, danach 38 Jahre im Turbach. Neben seiner Lehrertätigkeit war er Kursleiter in der Lehrerfortbildung, an der BFF Bern, gab Semesterkurse. Sigi Amstutz war Vater von fünf Kindern und zwei Pflegekindern. Er war zweimal verheiratet, seine erste Frau starb bei der Geburt des ersten Kindes.


