Von Hobbies erfüllt
30.12.2022 SerieLivio von Siebenthal investiert seine rare Freizeit in Insektenhaltung und Zeichnen. Ob seine Zufriedenheit aus der Begeisterung für diese beiden Hobbies kommt? Ganz klar ja.
JENNY STERCHI
«Siehst du sie?», fragt mich Livio von Siebenthal, während ...
Livio von Siebenthal investiert seine rare Freizeit in Insektenhaltung und Zeichnen. Ob seine Zufriedenheit aus der Begeisterung für diese beiden Hobbies kommt? Ganz klar ja.
JENNY STERCHI
«Siehst du sie?», fragt mich Livio von Siebenthal, während wir beide angestrengt in eines der Terrarien schauen, die in seinem Zimmer stehen und hängen – Glaskästen und umfunktionierte Laternen. Während ich nichts als dürre Äste und trockenes Laub sehe, hat Livio eines seiner Haustiere längst entdeckt. Eine Gottesanbeterin. Ob Männchen oder Weibchen ist in diesem Stadium noch nicht sichtbar, erfahre ich von ihm, der sich in die Materie der Gottesanbeterin komplett eingelesen hat. «Hoffentlich ein Weibchen, die werden nämlich älter.» Denn das braun gefärbte und somit bestens getarnte Insekt ist nur eines von fünf Gottesanbeterinnen.
Seine erste hiess Java. Ein prächtiges Tier, das nun zwischen anderen unzähligen Insektenpräparaten seinen Platz hat. Alle Exponate exakt beschriftet und sortiert ausgestellt. Sein momentan kapitalstes Exemplar heisst Sarabi. Ich verspüre neben Faszination auch einen klitzekleinen Schauder und fühle mich ein bisschen wie im Naturkundemuseum und ein bisschen wie im Zoo. Und bin begeistert von dieser Hingabe, mit der
Livio eine Fliege aus den zahlreichen Bechern holt und via Pinzette dem imposanten und wunderbar gefärbten Tier zum Fressen anbietet.
Seine Eltern und Schwester Larina, die ihm sehr wichtig sind, gestehen ihm diese Leidenschaft zu. «Wenn es eine Insektenphobie gäbe in der Familie, hätte ich mich umentschieden und ein anderes Tier gewählt.» Auf die Gottesanbeterin ist er gekommen, als er vor anderthalb Jahren auf der Suche nach einem Haustier war, um das er sich kümmern kann. «Ich fand Gottesanbeterinnen immer schon spannende Tiere, ohne zu wissen, dass man die daheim halten kann.» Internetrecherchen und Informationen im Fachhandel machten ihn zum Fachmann. Er ist jetzt damit beschäftigt, optimale Zuchtbedingungen zu schaffen und eine erste Generation in Saanen zu entwickeln.
Die Vermutung liegt nahe, dass seine Berufswahl in Richtung Natur und Tiere geht. «Ich bin noch sehr unentschlossen, was den Berufswunsch angeht», sagt Livio ziemlich gelassen. Reisen in ferne Länder gehörten ebenso zu seinen Zukunftsplänen wie die Arbeit mit Tieren. Ob es ein Biologiestudium oder eine Tierpflegestation ist, kann er derzeit noch nicht beantworten. Aber beides sind realistische Optionen für Livio.
Mein Blick fällt auf eine Zeichnung. Eine Gottesanbeterin, abgebildet in allen Details. Livio hat sie gezeichnet. Worauf es ihm ankommt beim Zeichnen? «Meistens schaue ich, obs mir gefällt», erklärt der offensichtlich talentierte Livio. «Das Motiv muss zu erkennen sein.» Er malt – ohne Malkurs, ohne Online-Anleitung. Abstrakte Kunst ist nicht seine Welt, nur Formen und Farben sagen ihm nichts. «Das ist wie das Muster vom Sessel im Poschi, es sagt mir einfach nicht viel, gibt für mich nicht so viel her.» Seine Welt ist originalgetreues Abbilden. Und so bin ich fast verleitet, nach den Früchten zu greifen, die er – arrangiert in einer Schale – auf einen Keilrahmen gezeichnet hat. Er hat den ganzen Morgen daran gearbeitet. Möglichst realistisch, viele Details. Das war sein Anspruch, so sagt er. Er wendet gern Stunden fürs Malen und Zeichnen auf. Ist selbst sein grösster Kritiker.
Er hat zum ersten Mal Kunstgeschichte als Schulfach. Die anfängliche Skepsis wich dem wachsenden Interesse daran, woher Kunst kommt und wie sie definiert wurde. Der Umgang mit Farben füllt ihn offensichtlich aus. «Ich finde die Welt gar nicht so schlimm», ist seine spontane Reaktion, nachdem ihm auf die Frage, was ihn denn nerve, nichts einfällt. Und bei genauerer Überlegung stellt er fest: «Ich bin im Moment sehr zufrieden.»
Wovon träumen die jungen Menschen im Saanenland und wie gestalten sie ihr Leben? Die Serie «Jung und …?» gibt ihnen eine Stimme. Die Porträtierten wählen selbst, wer als Nächstes in diesem Format erscheint. Livio von Siebenthal würde sich über ein Porträt von Melinda Brand aus Lauenen freuen.
WER IST LIVIO VON SIEBENTHAL?
Livio von Siebenthal ist letzten Donnerstag 16 Jahre alt geworden, lebt mit seinen Eltern und der jüngeren Schwester in Saanen, besucht das Gymnasium in Gstaad, liebt es im Saanenland daheim zu sein und ist gleichzeitig neugierig auf die weite Welt. Er liebt die Natur, wilde Tiere – heimische und die in fernen Ländern – haben seine ganze Aufmerksamkeit. Besonders Insekten haben es ihm angetan. Sein besonderes Talent im Zeichnen nutzt er denn auch, um Tiere darzustellen – neben den Abbildungen von Menschen fremder Kulturen und neuerdings auch Stillleben. Als Kind versuchte er, Geschichten mit Bildern zu erzählen. Heute sind seine Bilder voller Aussagen. Sein Wunsch für die Zukunft leitet sich aus seiner Faszination für die Natur und Tierwelt ab: «Sagen, dass es zu spät sei, ist das Dümmste, was man machen kann. Die Natur und all ihre Kreaturen sind es wert, sie zu schützen, zu beobachten und regenerieren zu lassen.»
JENNY STERCHI