Wer in der Stille liebt, ist nie allein
13.12.2025 LeserbeitragEs war Heiligabend, gegen 17.00 Uhr, als sie leise die kleine Kapelle mitten im Dorf betrat und sich an ihre geliebte Orgel setzte. Draussen war es bitterkalt und begann, sachte zu schneien.
Eine Handvoll Menschen hatte sich drinnen versammelt und freute sich auf das kurze, alljährliche Konzert, das sie sich und Interessierten schenkte. Da sass zum Beispiel ein altes Ehepaar Hand in Hand, das in seinem langen Leben viel Freud und Leid gesehen hatte, daneben eine nicht mehr ganz junge Frau alleine, für die diese berührende Musik Weihnachten bedeutete. Etwas weiter vorne hatte ein alleinstehender Mann neben einer jungen Familie mit zwei kleinen Kindern Platz genommen, froh, nicht ganz alleine auf der Kirchenbank zu sitzen. Ein Touristenehepaar gesellte sich noch dazu, das noch gar nicht ahnte, was es zu hören bekam. Die kleine Kirche war nur mit ganz vielen Kerzen beleuchtet, welche mit ihrem Licht tanzende Ornamente an die Wände zauberten. Das Orgelspiel dauerte nicht lange und war gedacht als Einstimmung auf den festlichen Abend.
Die ersten Stücke waren weihnächtliche Klänge voller Harmonie und alter Schönheit und einige wagten es, leise mitzusummen. Eine wunderbar andächtige Stimmung machte sich breit und berührte jeden, der ganz für sich diesen Tönen lauschte.
Als sie das letzte Stück anstimmte, begann für sie eine ganz besondere Magie. Es war ein Lied ohne Namen, geschrieben für jemanden, der es nie gehört hatte und der ihrem Herzen stets ganz nah sein würde.
Mit einem leicht wehmütigen Lächeln schloss sie die Augen und spielte gedankenverloren die ersten Töne. Wie Himmelsmusik klang es für die, die zuhörten, und sie versank dabei in ihre unvergesslichen Erinnerungen und Träume von Weihnachten zu zweit, romantischen Spaziergängen im Schnee, von ihrem festlich geschmückten Haus, das sie beide immer mit einem wohligen Gefühl der Geborgenheit empfing. Sie hörte seinen berühmten Satz: „Komm, wir lassen die Welt jetzt draussen“, wenn sie sich endlich ihrem kleinen, feinen Weihnachtsfest widmen konnten, das mit vielen Überraschungen und den traditionellen Liebesbriefen, die sie sich unter ihrem Bäumchen liebevoll vorlasen, immer etwas ganz Besonderes war. Sie dachte an dieses Miteinanderschwingen und an die tiefe Liebe, die sie verband und die auch jetzt in diesem heiligen Raum deutlich spürbar war.
Ganz nah konnte sie ihn fühlen, in jeder Melodie und in jeder Pause zwischen den Tönen. Als sie die letzten Akkorde anschlug, wurde sie automatisch etwas langsamer und behielt dann ihre Hände noch einen Augenblick auf ihrem Instrument, fast als wollte sie ihre Träume noch ein wenig festhalten, die Wirklichkeit noch für ein paar Momente aussenvorlassen. In der Kapelle war es indes ganz still, niemand rührte sich, jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Da und dort hätte man ein Tränchen sehen können, wenn nicht der ganze Raum in ein wohltuendes, gedämpftes Licht eingehüllt gewesen wäre. Nach einer gewissen Zeit verliessen die Zuhörer langsam und andächtig das Kirchlein, um jeder auf seine Art den heiligen Abend zu zelebrieren.
Sie blieb allein zurück und nachdem sie alle Kerzen ausgeblasen hatte, stand sie noch eine Weile vor der kleinen Krippe, die als einzige beleuchtet war, zusammen mit dem Kind, der Mutter, dem Vater und dem Holzengel, der über ihnen schwebte, und es war, als lächelten sie ihr zu. Dann legte sie zum Abschied ein kleines Notenblatt auf die Kirchenbank. Darauf stand in ihrer Handschrift: „Für alle, die in der Stille lieben.“
Ganz sachte schloss sie die Kirchentür und ging hinaus. Draussen hatte der Schnee das ganze Dorf in eine weisse, weiche Decke gehüllt und die Stille, die sie umgab, war heilig und heilsam.
Rechts neben der Tür erblickte sie plötzlich ein in den Schnee gemaltes, grosses Herz und daneben einen Briefumschlag. Darin ein Stück Papier mit einer Schrift, die sie sofort erkannte:
„Manche Melodien hört nur das Herz.
Und manchmal sind Menschen einfach Engel,
die uns daran erinnern, was Liebe ist.“
Sie las die Zeilen zweimal, dreimal und hielt dann den Umschlag ganz nah an ihre Brust, als wollte sie den Klang darin bewahren. Da wusste sie, dass er bei ihr war, in jeder Schneeflocke, in jeder Kerze, in der Musik, die noch in ihr nachklang.
Auf dem Heimweg blickte sie in die erleuchteten Fenster, hinter denen die Menschen für einen Abend lang diesen Frieden spüren konnten und die Wärme und Nähe zueinander, die eine ganz besondere Bedeutung bekamen.
Dann zog sie ihren Schal etwas enger um den Hals und ging langsam weiter durch das menschenleere, verschneite Dorf zu ihrem lichtererfüllten Häuschen und irgendwo, fern und doch ganz nah, hörte sie die zarten Klänge einer Melodie, die nicht ganz von dieser Welt zu sein schien.
Zu Hause angekommen, stieg sie die schmale Holztreppe hinauf in das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer, in dem das Feuer im Kamin brannte und ihre Seele erwärmte. Sie machte sich eine Tasse Tee, setzte sich auf ihr bequemes Sofa, deckte sich mit einer kuscheligen Decke zu und blickte ins Feuer, das auf einmal so seltsam zu knistern begann, als würde das Holz flüstern. Und sie erinnerte sich daran, dass er ihr immer sagte: „Wenn das Holz flüstert, dann denkt jemand fest an dich.“ Und der ganze Raum schien plötzlich zu strahlen, als wäre eine ganze Schar Engel hinzugekommen. Da wurde ihr wieder einmal bewusst, dass, ganz besonders an diesem Fest der Liebe, sich niemand einsam fühlen muss, denn dort, wo jemand alleine ist, versammeln sich Engelscharen, die einen einhüllen in diese reine, bedingungslose Liebe, die uns an Weihnachten geschenkt wurde. Sie lächelte und bevor sie einschlief, sandte sie noch den Wunsch in den Himmel: „Möge dieses magische Fest uns wieder einmal daran erinnern, dass Liebe das Einzige ist, was zählt und alles heilt.“

