2,8 Tonnen Food Waste jährlich: Was tun wir dagegen?
11.06.2025 GesellschaftJährlich landen in der Schweiz rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall – ein Problem, das Umwelt und Gesellschaft betrifft. Grossverteiler setzen auf Reduktion durch Spenden, clevere Planung und digitale Tools. Auch lokale Anbieter engagieren sich mit eigenen Konzepten. Ein ...
Jährlich landen in der Schweiz rund 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall – ein Problem, das Umwelt und Gesellschaft betrifft. Grossverteiler setzen auf Reduktion durch Spenden, clevere Planung und digitale Tools. Auch lokale Anbieter engagieren sich mit eigenen Konzepten. Ein Blick auf Massnahmen, Ziele und überraschende Ideen gegen die Lebensmittelverschwendung.
Food Waste – ein Thema, das alle angeht
Gemäss einer Studie der ETH Zürich fallen in der Schweiz rund 2,8 Tonnen Lebensmittelverluste pro Jahr an. Was tun die Grossverteiler und ein lokaler Betrieb dagegen? Wir haben nachgefragt.
ANITA MOSER
«Lebensmittel, die für den menschlichen Konsum produziert wurden und auf dem Weg vom Feld bis zum Teller verloren gehen oder weggeworfen werden, nennt man Food Waste», heisst es auf der Website des Bundesamtes für Umwelt BAFU zum Thema Lebensmittelverschwendung.
Für die Vermeidung von Food Waste sind somit alle Akteure der Lebensmittelherstellungskette gefordert: von den Landwirtinnen und Landwirten über die Detailhändler und Grossverteiler bis zu den Konsumentinnen und Konsumenten. Alle können einen Beitrag leisten, um die Lebensmittelverschwendung zu verringern. Wie «20 Minuten» kürzlich vermeldete, erhebt ein Restaurant im deutschen Weil am Rhein Gebühren für nicht aufgegessenes Essen. «Gäste zahlen zwischen drei und zehn Euro, wenn sie grosse Mengen zurücklassen», heisst es in dem Bericht.
«Ein grosses Anliegen»
Food Waste zu verringern, sei ihnen ein grosses Anliegen, versichern die beiden Grossverteiler Coop und Migros auf Anfrage. Produkte, bei denen die Verkaufsfrist ablaufe, kennzeichne Coop mit dem Sticker «Verwenden statt Verschwenden» und biete sie zum reduzierten Preis an. «Seit 2005 spenden wir Lebensmittel, die qualitativ einwandfrei sind, jedoch nicht mehr verkauft werden können, an die Schweizer Tafel und Tischlein deck dich», schreibt Coop. Im Jahr 2024 habe Coop rund 34,4 Millionen Teller für armutsbetroffene Menschen gespendet.
Dank technischer Hilfsmittel und langjähriger Erfahrung könne das Angebot sehr gut geplant werden, sodass vergleichsweise wenig übrig bleibe. Gefragt, wie der Grossverteiler in ländlichen Regionen mit überschüssigen Frischwaren umgeht, antwortet die Pressesprecherin: Das Angebot und Engagement bestehe schweizweit über das gesamte Verkaufsstellennetz mit 970 Supermärkten. «In Absprache mit unseren Partner:innen haben wir das Konzept des Rückschubs aufgebaut. Dabei werden Lebensmittel aus Verkaufsstellen, bei denen eine Direktabholung durch die Partner:innen nicht möglich ist, in unsere Verteilzentrale zurückgebracht.» Die Ware werde dort kommissioniert und der Schweizer Tafel und Tischlein deck dich übergeben. Des Weiteren würden in den Coop-Restaurants qualitativ einwandfreie Produkte, die nicht mehr verkauft werden könnten, zu Beilagen, Salaten, Suppen oder Desserts verarbeitet. «Dies ist auch im Coop Restaurant in Gstaad der Fall.»
Ziel «Zero Waste»
Gefragt nach Kennzahlen, antwortet die Pressesprecherin: «Wir haben das Engagement über die letzten Jahre kontinuierlich ausgebaut. Das Ziel ist ‹Zero Waste›. Dafür sind wir auch unterzeichnende Partnerin des Aktionsplans des Bundes zur Halbierung der Lebensmittelverluste bis 2030. Dort werden gemeinsam mit dem Detailhandel sowie der Schweizer Tafel und Tischlein deck dich Massnahmen zur Reduktion der Lebensmittelverschwendung erarbeitet und umgesetzt. Am Ende werden 99,8 Prozent der Lebensmittel verwendet.»
Digitalisierung und die Rolle der Mitarbeitenden
Der Pressesprecher von Migros Aare verweist auf Anfrage auf die Homepage des Grossverteilers. Die Migros Aare setze viel daran, Food Waste zu verhindern. Die Hebel dafür seien unterschiedlich. «Systeme, Mitarbeitende und Kunden können mithelfen.» Mit ausgeklügelten Systemen versuche die Migros Aare, die Bestellmenge der frischen Produkte möglichst punktgenau anzupassen. Bestellsysteme allein reichten aber nicht, um die Regale im Supermarkt zu füllen. Es brauche auch die Mitarbeitenden, um diese Systeme zu bewirtschaften. «Die Mitarbeitenden kennen die Trends oder wissen, ob es am Wochenende Grillwetter geben wird oder nicht. Dementsprechend können sie bei den Bestellungen eingreifen», heisst es auf der Homepage.
Nicht zuletzt könne sich auch der Kunde für das Thema Food Waste einsetzen. Wenn zum Beispiel vor Ladenschluss für einmal das Lieblingsbrot nicht mehr vorhanden sei, einfach auf eine andere Brotsorte ausweichen, rät der Grossverteiler.
«98,6 Prozent aller Esswaren gehen in den Verkauf oder als Spende an gemeinnützige Organisationen wie zum Beispiel Schweizer Tafel oder Tischlein deck dich. 1,11 Prozent werden zu Biogas verarbeitet und dienen dann zum Beispiel als umweltfreundlicher Treibstoff für Lastwagen. 0,20 Prozent der Migros-Lebensmittel werden zu Tierfutter, 0,07 Prozent zu Kompost und 0,02 Prozent zu Abfall», heisst es weiter auf der Homepage.
Überraschungspakete per App
Beide Grossverteiler machen mit bei der App Too Good To Go. Via dieser App können Kundinnen und Kunden ein Überraschungspaket zu reduziertem Preis beziehen und so Food Waste ebenfalls verhindern. Die App Too Good To Go ist nach eigenen Angaben der weltweit grösste Marktplatz für überschüssige Lebensmittel. «Partnerbetriebe bieten ihre nicht verkauften Lebensmittel in Form von Überraschungspäckli an und lassen sie von Kundinnen und Kunden zu einem gewünschten Zeitpunkt vor Ort abholen. Die Überraschungspäckli würden zu einem um 25 bis 50 Prozent reduzierten Preis, gemessen am ursprünglichen Verkaufswert des enthaltenen Inhalts, verkauft, schreibt das Unternehmen.
In den Überraschungspäckli fänden alle möglichen Lebensmittel Platz, schreibt die Migros. «Am häufigsten gehen aber Frucht- und Gemüsepäckli über den Ladentisch.»
Eric Oehrli, Geschäftsführer und Inhaber von Early Beck, setzt auf das eigene Label «Too early to go», um Produkte zu reduzierten Preisen anzubieten, wie er im Interview erzählt. Zudem arbeitet er mit Madame Frigo zusammen (siehe Kasten oben).
«Potenzial sehe ich in den kurzen Transportwegen und der lokalen Herstellung der Produkte»
IM Gespräch erzählt Eric Oehrli, Geschäftsführer und Inhaber von Early Beck, wie die traditionsreiche Bäckerei mit Sitz in Saanen mit innovativen Ideen und regionaler Vernetzung Food Waste vermeidet.
ANITA MOSER UND ELISA OPPERMANN
Eric Oehrli, was passiert bei Early Beck mit Backwaren, die am Ende des Tages übrig bleiben?
Die Brote werden von allen Filialen ins Backhaus zurückgeführt und sortiert. Ein Teil wird geschnitten und getrocknet und zu Paniermehl verarbeitet. Dieses kommt in die Restaurants und wird dort zu Wiener Schnitzel veredelt. Paniermehl kann auch in jedem unserer Läden gekauft werden. Und drittens setzen wir auf Basis von Paniermehl einen Sauerteig an, der wiederum als Basis unseres «Pain du Coq» dient. Das ist ein altes Rezept aus der Zeit des Ersten Weltkriegs – auch damals war Food Waste schon ein Thema.
Und was passiert mit dem Rest?
Aus einem anderen Teil des übrig gebliebenen Brotes werden Apéro-Crostinis hergestellt. Das Brot wird geschnitten, mit Olivenöl und Bergkräutern aus dem Simmental bestreut und geröstet.
Ein weiterer Teil wird im Rahmen unseres Labels «Too early to go» in bestimmten Läden zu einem stark reduzierten Preis verkauft. Und was dann noch übrig bleibt, wird von Bauern abgeholt oder kommt in den Gärturm in der Dorfrütti und wird zu Wärme und Strom.
Gibt es interne Massnahmen, um Überproduktion zu vermeiden?
Ja, wir planen unsere Produktion täglich und können so sehr schnell auf saisonale Wechsel oder Wochenenden reagieren. Einige Produkte wie «Tarte salé», Schinkengipfeli und Würstli im Teig werden vor Ort gebacken. Das hat zwei Vorteile: Die Produkte kommen noch warm in den Laden und wir können genau nach Bedarf backen. Zwischen den Filialen helfen wir uns aus, falls eine Filiale zuviel Ware hat und die andere zu wenig. Wir haben ebenfalls eine kleine Reserve Brot im Tiefkühler, welche uns erlaubt, bei Bedarf sehr schnell Brot nachzubacken, falls wir zu wenig haben.
Viele Kundinnen und Kunden erwarten bis Ladenschluss frisches Brot – führt das im Alltag zu Food Waste?
Was heisst frisches Brot bis Ladenschluss? Ist es das vorgebackene tiefgekühlte Brot, welches im Grossverteiler und in Tankstellenshops bis Ladenschluss aufgebacken wird und warm in die Regale kommt, jedoch schon Wochen, wenn nicht Monate alt ist? Und eventuell noch von Osteuropa importiert wurde?
Der Materialwert eines Brotes ist klein. Der emotionale Wert aber sehr gross. Frische wird durch warmes Brot übermittelt. Daher werden in Grossverteilern Brote bis Ladenschluss warm angeboten, um die Frischekompetenz den Kunden zu vermitteln. Aus meiner Sicht ein reines Marketinginstrument, das zu Food Waste führt.
Und was ist Ihr Rezept?
Wir arbeiten mit langgeführten Teigen, setzen unsere hauseigenen Natursauerteige ein und erhalten so ein Brot, das nicht nur bis Ladenschluss frisch ist, sondern sich auch noch zwei, drei Tage oder länger hält. Solche Brote verursachen keinen Food Waste, da sie bis zum letzten Stück ein Genuss bleiben.
Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, insbesondere in kleineren oder saisonal geprägten Filialen wie in Gstaad?
Unsere Filiale an der Promenade in Gstaad ist saisonal geprägt, aber ist unser Hauptgeschäft. Im Ebnit oder Saanen am Menuhinplatz haben wir kleinere Filialen. Die saisonalen Schwankungen sind eine grosse Herausforderung, vor allem in einem Ganzjahresbetrieb, wie wir einer sind. Neben der Produktionsplanung ist der Personaleinsatz das grosse Thema.
Geben Sie nicht verkaufte Produkte an so- ziale Einrichtungen oder über Plattformen wie Too Good To Go weiter?
Wir haben die Plattform Too Good to go genau angeschaut, sind aber zum Schluss gekommen, dass dies ein reines Marketingtool für die dahinterstehende Firma ist. Daher haben wir darauf verzichtet. Wir haben aber unser eigenes Label «Too early to go» für Produkte, die zu reduzierten Preisen angeboten werden, um Food Waste zu vermeiden. Auch arbeiten wir mit Madame Frigo zusammen.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihrem Label gemacht?
Es ist schön zu sehen, dass es Kunden gibt, die das Thema ernst nehmen. Sie sind sich bewusst, dass Produkte wie Brot über einige Tage haltbar sind und vollen Genuss bieten, wenn sie in entsprechender Qualität hergestellt werden.
Hat sich das Bewusstsein für Lebensmittelverschwendung in Ihrem Betrieb oder bei Ihrer Kundschaft in den letzten Jahren spürbar verändert?
Ja, ganz klar. Wir arbeiten viel daran und vom Personal selber kommen viele Ideen und Anregungen. Ebenfalls sind neue Mitarbeitende bei diesem Thema sehr aufgeschlossen und stellen Fragen.
Wie wichtig ist das Thema Nachhaltigkeit für Sie als lokale Bäckerei im Alltag – und wo sehen Sie noch Potenzial zur Verbesserung?
Potenzial sehe ich in den kurzen Transportwegen und der lokalen Herstellung der Produkte. Hier im Saanenland, Pays-d’Enhaut und im Greyerzerland haben wir eine Fülle von Rohstoffen, welche direkt vor Ort verarbeitet werden können. Nehmen wir das Beispiel Butter. Diesen Sommer werden wir circa sechs Tonnen Alpbutter vom L’Etivaz beziehen können und dies ohne einen zusätzlichen Kilometer Transportleistung. Unsere Chauffeure, welche das Brot nach L’Etivaz liefern, holen den Anken ab und bringen ihn ins Backhaus in Saanen. Andere Jahre wurde die Etivaz-Butter bis nach Lausanne transportiert, um dort verarbeitet zu werden. Das ist ein Beispiel von vielen, wie wir gemeinsam unsere Region stärken, die Wertschöpfung im Tal behalten und der Natur Gutes tun können.
MADAME FRIGO
Seit 2022 betreut der Frauenverein Saanen an drei Standorten – Gstaad, Saanen und Schönried – Kühlschränke mit dem Ziel, der Lebensmittelverschwendung den Kampf anzusagen. Wobei der Kühlschrank in Schönried bald aufgehoben wird, da er kaum genutzt wird, wie der Frauenverein auf Anfrage schrieb. Was darf in den Kühlschrank und was nicht?
Erlaubt sind:
• Obst und Gemüse
• verschlossene Produkte, welche höchstens das Mindesthaltbarkeitsdatum erreicht haben
• nicht alkoholische Getränke
• Brot
Nicht erlaubt sind:
• frisches Fleisch und Fisch
• gekochte Lebensmittel
• geöffnete Produkte
• Produkte, bei denen das Verbrauchsdatum überschritten ist
• Alkohol
Wo stehen die Kühlschränke?
• Gstaad: beim Haupteingang des Kirchgemeindehauses
• Saanen: unter der Treppe beim Lebensmittelladen Schmid im Dorf
• Schönried: vis-à-vis dem Parkplatz Schulhaus, vor der Einstellhalle des alten Feuerwehrmagazins
Wer kann mitmachen?
Alle: Privathaushalte, Lebensmittelläden, Hotels und Restaurants
PD/AVS VOM 13. SEPTEMBER 2022