Volle Pisten, volle Betten

  11.02.2010 Gesellschaft, Saanen


Der Patient erlitt eine Radiusfraktur, Pflegeassistent Tom Ziörjen (links) und Assistenzarzt Christoph Heidt (rechts) betreuen den jungen Snowboarder. (Foto: Christine Eisenbeis)

Hochbetrieb auf der Skipiste bedeutet auch immer Hochbetrieb im Spital Saanen. Für die Spitalmitarbeiter ist klar: Scheint an einem Wintertag die Sonne, gibt es garantiert wieder jede Menge Notfälle im Spital. Denn je voller die Skipisten, desto höher ist die Unfallgefahr.

 

 

 

Wenn es geschneit hat und am Morgen wieder die Sonne scheint, der Himmel stahlblau über dem Saanenland liegt, dann weiss Martina Gläsel: «Es wird viel zu tun geben heute.» Wie viel Arbeit auf die Helfer in Weiss im Spital Saanen zukommt, hängt ziemlich stark davon ab, wie viele Wintersportler sich tagsüber auf der Skipiste tummeln. «Wir funktionieren genau wie der Tourismus», sagt Martina Gläsel, Standortleiterin des Spitals Saanen. «Je mehr Gäste im Saanenland sind, desto mehr haben wir zu tun.» Martina Gläsel sagt, sie sei selbst ein bisschen überrascht gewesen, als sie die Zahlen nachgeschlagen habe: Alleine mehr als 60 ambulante Patienten über Silvester nur im chirurgischen Bereich. So hat das neue Jahr also im Spital Saanen begonnen. An solchen Tagen geht es ziemlich stressig zu in der Notaufnahme, nach aussen hin bleibt das Personal die Ruhe selbst. Den Patienten nicht nur die Schmerzen, sondern auch die Ängste zu nehmen, den Schock ein bisschen zu lindern, das gelingt ihnen auch an solchen Tagen. Wenn Assistenzarzt Christoph Heidt mitten in der Silvesternacht den nächsten Notfallpatienten entgegennimmt, macht er einen ziemlich entspannten Eindruck. Nacht- und Pikettdienst, das ist für die Helfer im Spital völlig normal. «Alle Mitarbeitenden, welche Pikett- und Bereitschaftsdienste übernehmen, sind mittlerweile so organisiert, dass sie von ihrem Wohnort aus innert nützlicher Frist im Spital einsatzbereit sind. Das ist sowohl für die Mitarbeitenden als auch für das Spital praktisch. Zudem bietet das Spital Pikettzimmer an, vor allem für diejenigen, welche ihren Dienst im Haus verbringen müssen», erklärt Gläsel.

Über 750 Sportunfälle
Zwischen dem 1. Dezember 2008 und dem 31. März 2009 hat sie 752 Sportunfälle und 447 sonstige Unfälle, die im Spital behandelt werden mussten, gezählt. «Im Winter ist die Anzahl der Sportverletzungen naturgegeben einfach höher. Und dazu kommt, dass mit den Gästen die Einwohnerzahl im Einzugsgebiet in der Hauptsaison auf bis zu 40000 steigt», sagt sie. Die Statistik der Unfallversicherung zählte im Jahr 2006 schweizweit 52120 Wintersportunfälle. Das bedeutet 280 Mio. Franken Kosten. Im Schnitt kostet eine Wintersportverletzung um die 5300 Franken. «Für einen Eingriff an den unteren Extremitäten ohne Komplikationen kann man bei einem Aufenthalt von länger als vier Tagen bei einem allgemeinversicherten Patienten nach DRG-Tarif Fr. 3760.95 verrechnen», sagt Martina Gläsel. Bei einem Privatversicherten steigen die Kosten bei der selben Behandlung gleich auf Fr. 10109.70. «Viele wundern sich, wenn sie eine Rechnung bekommen. Aber wir machen diese Preise nicht selbst, sondern müssen nach genauen Richtlinien gemäss KVG abrechnen. Hierbei ist zu beachten, dass privatversicherte Patienten keine Kantonssubventionen (52%) erhalten und sich so der Kostenunterschied erklärt», sagt Martina Gläsel. Dass das Spital auf Kosten sitzenbleibt, weil viele Unfallopfer Urlauber aus dem Ausland sind, komme zum Glück heute so gut wie gar nicht mehr vor. «Dank Sofortrechnungen und der guten Zusammenarbeit mit den ausländischen Versicherungen müssen wir nur sehr selten lange auf das Geld für die Behandlungen warten. Zunehmend Sorge bereiten uns allerdings Schweizer Patienten, die einen Leistungsaufschub haben. Das ist aber in Städten ein viel grösseres Problem als hier», so Gläsel. Pflege heisse schliesslich: Betreut wird jeder. Aus der Sicht einer Krankenschwester oder eines Arztes gehe es nie erst ums Geld. «Wir wollen einfach helfen», sagt Martina Gläsel und schmunzelt. Sie war schliesslich selbst Krankenschwester und kennt diese Einstellung nur zu gut. Als Standortleiterin schaue sie heute natürlich viel mehr auf das Geld. «Man bekommt einfach einen anderen Blickwinkel.» Dass eine Behandlung so hohe Kosten mit sich trage, sei allerdings selbstverständlich, bedenke man, dass ein Spital 365 Tage im Jahr offen sei, ständig mit Personal besetzt sein, geheizt und sauber gehalten werden müsse. Dazu kommen Verbrauchsmaterialien, Medikamente, Lebensmittel und noch vieles mehr. 24 Betten stehen im Spital Saanen zur Verfügung, in einer Woche wie der Neujahrswoche kann es knapp werden. «Und so setzen wir auch das Personal saisonabhängig ein. Es gibt Mitarbeitende, die kommen nur in der Wintersaison», sagt Gläsel.

Harter Schnee: Frakturen und Schädel-Hirn-Traumata – weicher Schnee: Bandverletzungen
Ende Januar, kurz bevor dem Saanenland der nächste Gästeansturm der Wintersaison bevorsteht: An diesem Nachmittag ist es verhältnismässig ruhig in der Notfallstation. Es dämmert schon, ein junger Snowboarder wird behandelt. Er hat sich die Speiche gebrochen. «Typische Snowboarder-Fraktur», sagt Martina Gläsel. Die gute Laune der Pfleger und Ärzte überträgt sich auf den jungen Patienten. Der erste Schreck ist vorbei, der Gips ist dran, die Schmerzen betäubt. «Es gibt richtige Stosszeiten im Winter. Die meisten Notfallpatienten kommen zwischen 15 und 17 Uhr», sagt Christoph Heidt. «Das ist die Zeit, wenn die Muskeln der Schneesportler auf der Piste müde geworden sind und sich die Fahrer überschätzen.» Martina Gläsel dazu: «Ich habe das schon so oft erlebt, dass die Leute dann sagen: ‹Wir wollten doch nur noch diese eine Abfahrt machen und dann nach Hause. Dass das noch passieren musste.›»
Einen weiteren Ansturm gäbe es dann während der Wintersportsaison immer am späten Abend. «Wenn die Sportler dann im Bett liegen, merken sie aufgrund ihrer Schmerzen oft, dass ihre Stürze und Verletzungen schlimmer sind als anfangs angenommen», sagt Heidt. In dieser Wintersaison stellte er häufig die Diagnose: Knochenbruch. Je härter der Schnee, desto mehr Frakturen und Verletzungen am Oberkörper, je mehr Schnee, so wie beispielsweise im letzten Winter, desto mehr Band- und Knieverletzungen. «Ob harter Schnee, also viel Kunstschnee, oder viel weicher Schnee – aus Sicht der betroffenen Patienten ist das eine nicht besser als das andere. Sowohl die einen als auch die anderen Verletzungen sind sehr schmerzhaft», sagt Chirurg Christian Reuteler.

Wenn Material «zu gut» ist …
Gemäss Dr. Reuteler hätten sich allgemein die Schneesportverletzungen ein wenig vom Bein zur Schulter verschoben. «Das kommt beispielsweise durchs Snowboarden.» Zurückgegangen seien die Kopfverletzungen. «Dies ist unter anderem auf das Tragen von Skihelmen zurückzuführen», sagt auch Martina Gläsel. Doch als reinen Segen möchte Reuteler die Helme nicht bezeichnen. «Für Kinder sind sie in jedem Fall ein Segen. Aber bei den Erwachsenen habe ich häufig den Eindruck, durch Helme und Protektoren fühlen die Wintersportler sich zu sicher. Sie gehen ein höheres Risiko ein und überschätzen sich selbst gern.» Auffällig seien die vielen Kollisionen. «Es ist schwierig, die Tempi zu beherrschen. Heute wird bereits Mitte September der Materialmarkt angekurbelt. Die Ausrüstung wird immer besser und schneller. Ein Verkäufer weist seinen Kunden aber nicht darauf hin, dass für dieses Material, mit dem immer höhere Geschwindigkeiten möglich sind, auch ein immer ausgeprägterer Muskelapparat notwendig ist», sagt Reuteler.
Wenn er nachts mal wieder einen Anruf aus der Notaufnahme bekommen hat und ins Spital muss, sei das für ihn nie eine lästige Pflicht. «Wenn das so wäre, müsste ich sofort aufhören zu arbeiten», sagt Reuteler. «Etwas, was kaputt ist, wieder so herzustellen, wie es an dem Morgen war, bevor es kaputtgegangen ist – das ist der Reiz. Das interessiert mich», sagt er. Für Reuteler ist sein und der Einsatz seiner Kollegen selbstverständlich. Jeder von ihnen habe schliesslich bei der Berufswahl gewusst, auf was er sich einlasse. «Wenn wir das ganze Jahr so viel zu tun hätten wie im Winter, wäre das natürlich viel zu viel», sagt Christian Reuteler. «Aber», sagt Martina Gläsel, «das ganze Haus freut sich jedes Jahr auf die Wintersaison. Doch alle sind auch froh, wenn sie dann wieder vorbei ist.»


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