Erfrischende Verbindung von Literatur und Musik

  12.06.2018 Kultur

Blanca Burri, Stefanie Christ, Melanie Gerber und Sandra Rutschi lasen letzten Samstag im Open Spaces Feutersoey aus ihren Texten zum Thema «Abgründe». Sarah Iseli umrahmte den Abend mit Gesang und Ukulelespiel.

ÇETIN KÖKSAL
«Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.» Dieses Gefühl, das Friedrich Nietzsche in «Jenseits von Gut und Böse» so trefflich beschreibt, kennen wir wohl alle. Die Protagonisten aus den Geschichten der vier Autorinnen erleben es in jener Intensität, welche das ihnen angedichtete Leben zulässt. Auch Sarah Iseli liess uns durch ihre Musik ein klein wenig in ihre Abgründe blicken, obwohl es doch eher ein Mitfühlen war, denn das Schöne an der Musik ist ja gerade, dass sie dort weitervermittelt, wo einem die Worte fehlen.

«Hässliche Hunde» und «Der gute Scheiss»
In den beiden Kurzgeschichten von Stefanie Christ öffnen sich zwei sehr unterschiedliche Abgründe. Im «Hässlichen Hund» begleiten wir eine seit unendlich vielen Jahren verheiratete Frau durch ihr ganz persönliches Wintermärchen. Leutselig eifert sie der üppig funkelnden Weihnachtsdekoration eines stattlichen Berner Stadthauses nach. Sie besorgt sich, was sie kriegen kann – sehr zum Missfallen ihres Gatten. Was zunächst heiter und amüsant daherkommt, entpuppt sich bei genauerem Hinhören als tieftragischer Abgrund einer völlig hoffnungslosen, verdeckt und offen gewalttätigen Beziehung. «Der gute Scheiss» thematisiert die Abgründe, die sich uns auftun, wenn Katastrophen geschehen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Terroranschläge, Naturgewalten, Krieg entziehen uns einen Teil des Grundvertrauens in die Gutartigkeit des Seins. Misstrauen, unbegründete Verdächtigungen und Ängste sind die Folge davon. Stefanie Christ führte uns dies anhand ihrer leichtfüssigen Geschichte geschickt vor.

Frieden auf dem Giferspitz und «Immer wieder Bern»
Blanca Burri nahm uns in den Abgrund ihres Protagonisten mit, der sich örtlich und in den Düften zweier Frauen verliert. «Immer wieder Bern» zelebriert die Relativität der Wahrnehmung und die überragende Dominanz des Riechsinns. Im wörtlichen und übertragenen Sinn abgründig wurde es dann in «Schneegestöber», wo sich ein mit seinem Schicksal hadernder Mann auf den winterlichen Giferspitz verirrt. Was zunächst als verzweifelte Suche und Trauer nach der tragisch verblichenen Liebe anfängt, endet mit strahlender Erlösung beim Gipfelkreuz. Der Schluss der Geschichte bleibt mystisch schön offen. Blanca Burri erhielt teilweise musikalische Begleitung von Sarah Iseli. Ihre hier leise, aber dennoch volle Stimme untermalte die Erzählung mit einem abgründigen Zauber.

Ein bisschen Hölle im Schrebergarten
Die Abgründe von Sandra Rutschis Hauptfiguren in beiden vorgetragenen Geschichten ähneln sich auf verblüffende Weise. Es handelt sich um nicht mehr so junge Frauen, die in einem von zu vielen Enttäuschungen gezeichneten Leben stehen. «Im Schrebergarten» flüchtet die eine in ein amouröses Abenteuer mit einem jungen, wilden Mann, der rücksichtslos seinen Idealismus auslebt. Einerseits geniesst sie die Momente der so schmerzlich vermissten Leidenschaft, andererseits quält sie unablässig das Wissen um ihre seit langem schon gescheiterte Ehe und den nun begangenen Betrug. Gefangen ist auch die Protagonistin von «Ein bisschen Hölle». Die Tage im provinziellen Dorfladen gleichen sich aufs Langweiligste. Immer dieselben Kunden mit denselben Gewohnheiten und Marotten. Ganz besonders die ehemalige Französischlehrerin mit ihren kleptomanischen Spielchen treibt die arme Frau an ihren persönlichen Abgrund, der ihre ganzen bisherigen Lebensentscheidungen in Frage stellt. Die ruhige Ausstrahlung und die deutliche, gemächliche Art des Vorlesens von Sandra Rutschi gab dem Publikum die erfreuliche Chance, sich in die Welt ihrer Geschichten einzuleben.

Tragödie der «Medea» und «Im Kornfeld»
Melanie Gerbers grosse Leidenschaft gilt dem Theater. So wagte sie sich an ihre Version der schon vielfach ausgearbeiteten «Medea». Ein mutiger Schritt, «konkurriert» sie doch mit Grössen wie Euripides, Seneca, Grillparzer, Christa Wolf oder Jean Anouilh. Im vorgelesenen Auszug dieses Klassikers legt Melanie Gerber den Fokus auf die Selbstzweifel, Skrupel und Gewissensbisse der Kindsmörderin Medea. Am Vorabend ihrer Vermählung mit König Aigeus von Athen steht sie vor einem riesigen Schlund von Abgrund. Was ist schon schlimmer, als seine eigenen Kinder getötet zu haben? Dagegen wirkt der Abgrund der Figur im Kornfeld wie ein nettes, kleines Löchlein, obwohl auch dieser Geschichte die Tragik nicht fehlt. Eine sehr junge Mutter flieht erschöpft und überfordert in den Süden, wo sie in einem Kornfeld liegend allmählich wieder zu sich selbst findet. Die Zeitsprünge der Protagonistin hielten die Zuhörenden auf Trab und die Geschichte spannend.

Alles in allem ein sehr interessanter und bereichernder Abend. Besonders die Kombination von Lesung und musikalischer Darbietung gab dem Anlass einen speziell stimmigen Rahmen, was zweifelsohne in besonderem Masse daran lag, dass es Sarah Iseli mit ihrer Musik so gut gelang, auf die Texte einzugehen und sie ideal zu komplementieren. Beim liebevoll hergerichteten Apéro entstanden während der Pause und nach der Lesung anregende Gespräche und schöne Begegnungen. Auf dass wir nicht zu lange in unsere Abgründe blicken!


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