Integration als Selbstverständlichkeit

  19.06.2018 Region

Die Bildung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen findet entweder in der Sonderschule statt oder aber in der Regelklasse mit integrativer Sonderschulung. Die Heilpädagogische Schule Gstaad und die Rütti-Schule leben jedoch seit Jahrzehnten ein einzigartiges Integrationsmodell.

MELANIE GERBER
Seit 2008 wird im Kanton Bern vermehrt die integrative Sonderschulung angestrebt. Das bedeutet, dass Kinder mit besonderen Bedürfnissen am Schulalltag in der Regelschule teilnehmen. Dass Integration ein Erfolgsmodell sein kann, hat die Heilpädagogische Schule (HPS) Gstaad jedoch Jahrzehnte vor Umsetzung der Verordnung zu den besonderen Massnahmen im Jahr 2008 verstanden. Obwohl die HPS Gstaad der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) unterstellt und somit finanziell und organisatorisch von der Volksschule getrennt ist, pflegt sie zusammen mit der Primarschule Rütti ein Integrationsmodell, das seinen Ursprung in den 70er-Jahren hat. Markus Walther leistete während seiner 40-jährigen Tätigkeit als Schulleiter der Heilpädagogischen Schule grosse Pionierarbeit.

1975, als die HPS Gstaad noch in einer Baracke untergebracht war und die Kinder, so Schulleiterin Gabriele Weyermann, noch gar nicht so richtig beschult worden seien, habe man Schülerinnen der damaligen Oberstufe Rütti angefragt, ob sie sich in der Pause um ein mehrfach behindertes Kind kümmern möchten. Auf diese erste Initiative folgte eine ganz langsame Umsetzung dessen, was heute daraus entstanden ist. Man habe begonnen, einzelne Kinder nach und nach in den Turn- und Werkunterricht der Schule Rütti zu integrieren. Später besuchten HPS-Schüler/innen auch die Fächer Musik, Gestalten und in der Oberstufe Tanzen und Kochen sowie vereinzelt auch Natur Mensch und Gesellschaft (NMG), Deutsch und Englisch. Diese Integration hat auf freiwilliger Basis stattgefunden.

Individuelle Integration
Eine Integration beginnt immer sanft. Die Lehrperson der Regelklasse wird gut informiert, bevor der Schüler anfänglich eine halbe Stunde oder teilweise sogar noch kürzer die Regelklasse besucht. «Die Lehrpersonen der Regelklassen und Basisstufen sind sehr kooperativ», erklärt Gabriele Weyermann. «Es gelingt ihnen, mit viel Engagement und Flexibilität, trotz der heute üblichen heterogenen Gruppenzusammensetzungen, Kinder aus der HPS für eine bis zwei Lektionen in den Klassen zu integrieren.»

Natürlich gebe es immer auch Kinder, die durch eine Integration zu sehr überfordert würden. Dann bestehe die Möglichkeit einer anfänglichen Begleitung durch den Sozialpädagogen, sodass auch diese Schüler/innen den Kontakt mit normal begabten Kindern pflegen können. Mit zunehmendem Alter komme oftmals der Moment, wo die Schere dann doch zu weit auseinandergehe und es für die Schüler und Schülerinnen der HPS besser sei, im geschützteren Rahmen ihrer Schule gefördert zu werden. «Es ist dann auch Zeit, mit den Berufsvorbereitung zu beginnen», sagt Gabriele Weyermann.

Integration führt zu Interaktion
Mit der Zeit und mit dem Erfolg dieser Form von Integration entstand eine enge Zusammenarbeit der beiden Schulen. Daraus resultierte ein gemeinsames Leitbild. Die Sonderschule ist heute ein fester Bestandteil der Primarschule Rütti. «Inzwischen ist dieses Modell eingebürgert», sagt Gabriele Weyermann. «Wenn Lehrpersonen in der Regelschule angestellt werden, orientiert man sie über das Integrationskonzept. Das heisst, Schülerinnen und Schüler der HPS werden integrativ für einige Lektionen in den Regelklassen geschult und gefördert.»

Die Kinder der HPS besuchen die Regelklasse ohne zusätzliche Unterstützung. Den Weg ins andere Gebäude meistern sie mit wenigen Ausnahmen selbständig. Alle Projekte und Anlässe der beiden Schulen finden gemeinsam statt. «An Sporttagen nehmen die Kinder in gemischten Gruppen teil», erzählt Weyermann. Auch die Lehrpersonen durchmischen sich an solchen Projekttagen.

Es sei eine echte Zusammenarbeit entstanden, bei der alle profitieren. Die Kinder der Rütti-Schule hätten gelernt, auf die Kinder der HPS einzugehen, ebenso die Lehrpersonen. Schwierige Kinder hätten genauso eine Chance wie die andern. Die Lehrpersonen beider Schulen tauschen sich aus. Bei nonverbalen Kindern geben die Heilpädagogen der HPS beispielsweise Unterlagen zu gestützter Kommunikation mit.

«Ich bin der Meinung, dass wir hier für die Kinder einen guten Rahmen geschaffen haben», sagt Weyermann. «Unsere Kinder werden in einzelnen Lektionen durchmischt, bekommen aber in anderen Lektionen den nötigen Schutz, den sie für eine optimale Förderung brauchen.»

Gute Voraussetzungen
Dass eine derartige Interaktion zwischen den beiden Schulen überhaupt möglich ist, liegt zu einem grossen Teil an der Lage der Schulen: Sie sind auf dem gleichen Schulhausareal angesiedelt. Die Pausenplätze, Werkräume, Bibliothek und die Turnhalle können gemeinsam genutzt werden. Damit das Zusammenwirken der beiden Schulen im Alltag machbar ist, braucht es auch eine barrierefreie Schule. «Wir haben Treppenlifte in der Schule Rütti, so kann auch ein Kind im Rollstuhl am Unterricht teilnehmen», sagt Weyermann.

Dazu übernehmen die Lehrpersonen der HPS verschiedene Aufgaben an der Rütti-Schule, arbeiten am gemeinsamen Schulprogramm mit und engagieren sich am Jugendrennen Gstaad. Das Team der HPS besucht gemeinsam mit den Rütti-Lehrpersonen die internen Weiterbildungen.

Eltern und Behörden stehen dahinter
«Wir bekommen viele positive Reaktionen», sagt Gabriele Weyermann. Sie werde immer wieder von Eltern angesprochen, deren Kinder in die Rütti-Schule gehen. Aber auch die Eltern von Kindern mit Einschränkungen seien sehr um eine Integration in die Gesellschaft bemüht.

Auswirkungen des Integrationsartikels spüre die HPS jedoch auch. Inzwischen ist die immer noch relativ kleine Schule auf 22 Schüler/innen, verteilt auf drei Klassen, gewachsen. «Wir verdanken es der Gemeinde Saanen, die mit ihrer Unterstützung die Erweiterung unserer Schule überhaupt ermöglicht hat», so Weyermann. Die Trägerschaft der Schule ist die Gemeinde Saanen.

Die Akzeptanz der Öffentlichkeit gegenüber der Heilpädagogischen Schule sei sehr gross. Es gebe immer wieder Schulabgänger/innen, die später eine Arbeitsstelle in einem Betrieb aus der Region finden. Gabriele Weyermann ist sich sicher, dass dies auch deshalb möglich ist, weil die Schüler/innen der HPS im Saanenland und im Obersimmental gut integriert sind.

Aus dem Kanton bekommt die HPS Gstaad ebenfalls positive Rückmeldungen. Sowohl Erziehungsdirektion (ERZ) als auch GEF haben die Schule besucht, um sich das Integrationsmodell anzuschauen. Sie finden das «Modell Gstaad» beispielhaft und zukunftsweisend in der heilpädagogischen Schullandschaft des Kantons Bern.
1. Teil erschienen am 15. Juni.


BERICHT SONDERPÄDAGOGIK

Im Januar hat der Regierungsrat den Bericht Sonderpädagogik zuhanden des Grossen Rats verabschiedet. Der Bericht Sonderpädagogik sieht vor, dass die Sonderschulbildung im Kanton Bern einfacher geregelt und besser steuerbar wird. Die Regel- und Sonderschulen sollen künftig unter dem gemeinsamen Dach der Volksschule geführt werden. Der Bericht Sonderpädagogik wurde dem Grossen Rat in der Märzsession zur Kenntnisnahme unterbreitet. Damit die im Bericht festgelegte Strategie Sonderschulbildung umgesetzt werden kann, muss das Volksschulgesetz revidiert werden. Die Strategie sieht vor, dass die Sonderschulbildung neu dem Volksschulgesetz untersteht und der Lehrplan der Regelschule auch für den Sonderschulunterricht gilt, wie der Regierungsrat mitteilt.


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