Schulische Integration im Fokus

  15.06.2018 Schule

SERIE Schulische Bildung gehört zu den Grundrechten eines jeden Kindes in der Schweiz. In einer Serie von drei Artikeln wird der Fokus auf die schulische Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gerichtet.

MELANIE GERBER
Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden entweder in der Sonderschule unterrichtet oder aber in der Regelklasse mit integrativer Sonderschulung. Seit gut zehn Jahren wird im Kanton Bern vermehrt auf die integrative Sonderschulung gesetzt. Der erste Artikel der Serie befasst sich deshalb mit der Praxis der integrativen Sonderschulung im Saanenland. In der folgenden Ausgabe wird das Integrationsmodell der Heilpädagogischen Schule Gstaad vorgestellt, das gemeinsam mit der Rütti-Schule seit Jahrzehnten erfolgreich gelebt wird. Im letzten Teil erzählen die Eltern eines Kindes, das in den Regelkindergarten in Saanen integriert wird, von ihren Erfahrungen im Alltag.


Ein Recht auf schulische Integration

Kinder mit besonderen Bedürfnissen werden entweder in der Sonderschule unterrichtet oder aber in der Regelklasse mit integrativer Sonderschulung. Seit gut zehn Jahren wird im Kanton Bern vermehrt auf die integrative Sonderschulung gesetzt.

MELANIE GERBER
Schulische Bildung gehört zu den Grundrechten eines jeden Kindes in der Schweiz. Der Schulbesuch findet üblicherweise in der Regelschule statt. Kann nun ein Kind aufgrund einer Entwicklungsverzögerung, Verhaltensauffälligkeiten oder anderer Beeinträchtigungen die Regelschule nicht besuchen, wird es in einer Sonderschule unterrichtet. Seit 2008 wird im Kanton Bern vermehrt die integrative Sonderschulung angestrebt, was bedeutet, dass auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen am Schulalltag in der Regelschule teilnehmen. Der Kanton wolle damit die Chancengerechtigkeit und die individuelle Förderung im Kindergarten und in der Volksschule realisieren, wie die Erziehungsdirektion schreibt. Eine derartige reguläre Integration findet ausschliesslich in der Regelschule statt und wird mit bis zu sechs Lektionen pro Woche durch eine heilpädagogische Lehrperson begleitet.

Zehn Jahre später
Rund zehn Jahre wird diese Integrationspraxis nun an Berner Schulen gehandhabt. Waren es 2009 erst 103 Schüler/innen, die in die Regelschule integriert wurden, ist diese Zahl 2016 auf 463 gestiegen. Insgesamt ist die Zahl der Sonderschüler/innen im Kanton Bern gestiegen, dies als Folge einer gesellschaftlichen Entwicklung, wie Gundekar Giebel, Kommunikationsbeauftragter der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) auf Anfrage mitteilt. Die Gesellschaft sei heute sensibilisierter und die Fortschritte der Medizin ermögliche präzisere Diagnosen von Defiziten, was zu besseren Förderungsmöglichkeiten führe, so Giebel.

Gabriele Erdin, die Leiterin Integration der Schule Saanen, ist bereits in den 1990er-Jahren mit dem Thema Integration in Berührung gekommen, als sie in der Ausbildung im Kanton Freiburg war. Freiburg hatte im Bereich der Integration eine Vorreiterrolle, während im Kanton Bern eher in Kleinklassen unterrichtet wurde.

Inzwischen ist die integrative Sonderschulung aber auch im Kanton Bern in die Praxis der Regelschulen übergegangen. «Integration heisst, dass das Kind mit besonderen Bedürfnissen an Gruppensituationen teilnehmen kann», so Erdin. Dafür brauche es kollegiale Unterstützung. Das Kind wird zwar für sechs Lektionen durch eine heilpädagogische Lehrperson unterstützt, für die restlichen Lektionen müsse die Lehrperson jedoch selber einen Mehraufwand in Kauf nehmen.

Integration vor Separation
Den grossen Vorteil der integrativen Sonderschulung sieht Gabriele Erdin darin, dass die Schülerin bzw. der Schüler in der gewohnten Klasse bleiben kann. In beiden Schulungsformen, integrativ und separativ, versuche man, den Schüler kognitiv zu fördern, da bestehe kein Unterschied. Eine integrative Sonderschulung vereinfache jedoch den Anschluss zur Altersgruppe im Dorf und bringe emotional und sozial viele Entwicklungsmöglichkeiten. Ausserdem entstehe eine Win-Win-Situation innerhalb der Klasse: Kinder mit besonderen Bedürfnissen profitieren von den Kindern der Regelklasse und umgekehrt. Wichtig sei es, die Andersartigkeit mit den Schülerinnen und Schülern zu thematisieren, damit diese verstehen können, wieso jemand in ihrer Klasse Dinge anders macht oder für ihn leicht andere Regeln gelten. Diese Gespräche seien für die Kinder meist kein Problem, da sie die Unterschiede zwischen ihren Mitschülern, egal ob mit oder ohne Sonderschulstatus, sensibel wahrnehmen. «Die Kinder wissen sowieso ganz genau, wer der Beste im Rechnen ist und wer den Ball nicht fangen kann», sagt Erdin. Diese Klarheit sorge, so Erdin, für mehr Akzeptanz innerhalb der Klasse.

Sei für ein Kind sowohl der integrative als auch der separative Weg möglich, so gebe man immer der Integration den Vortritt. «Das Kind kann dadurch im gewohnten Umfeld bleiben», so Erdin. Manchmal komme der Moment, in dem es jedoch nicht mehr klappe. «Es kann sein, dass ein Schüler emotional überfordert ist, wenn er zu stark merkt, dass er anders ist», so Gabriele Erdin. «Er entwickelt dann Verhaltensmuster, die anecken und stört vielleicht sogar den Unterricht. Dadurch kann er an Gruppensituationen nicht mehr teilnehmen.» Meist passiere auch in der Oberstufe noch einmal ein Schub, da durch die Pubertät noch mehr Themen dazukommen. Dann könne immer noch der Schritt von der Integration zur Separation gemacht werden. Manchmal seien es jedoch auch strukturelle Schwierigkeiten, wie die Klassengrösse, die eine Integration verunmöglichen.

Sonderschulstatus als Erleichterung
Gelangt ein Kind in ein Sonderschulsetting in der Regelklasse, so führt der Weg dorthin über die Erziehungsberatung (EB). Diese stellt fest, ob ein Förderbedarf besteht, und lädt die Eltern zu einem runden Tisch ein, an dem auch Schulleiter und Lehrperson teilnehmen. Es wird auch besprochen, ob die Schule die nötigen Ressourcen hat, um den Schüler innerhalb der Regelklasse zu tragen. Danach wird ein Antrag auf Sonderschulbedarf an die Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) gestellt. Später wird jedes Jahr eine Standortbestimmung gemacht, um zu schauen, ob der Sonderschulstatus um ein Jahr verlängert wird oder ein Übertritt in eine Sonderschule nötig ist.

«Eltern schätzen die Unterstützung, die dank dem Antrag auf Sonderschulbedarf kommt», sagt Gabriele Erdin. Schwierig sei dieser Schritt für die Eltern kaum, denn davor gab es bereits Gespräche bei der EB und die Schwierigkeiten ihres Kindes seien schon thematisiert worden. Der Schritt wird vielmehr als Entlastung angeschaut. Schwieriger zu akzeptieren sei ein Schritt in ein separatives Setting innerhalb einer Sonderschule. Letztlich sieht Gabriele Erdin die beiden Systeme, integrative und separative Sonderschulung, als gleichwertig. Es gelte nicht zu werten, sondern es gehe darum herauszufinden, was für den Schüler passender sei.


ARTIKEL 17 DES VOLKSSCHUL-GESETZES

Artikel 17 des Volksschulgesetzes (VSG) bestimmt über die Integration und besonderen Massnahmen im Zusammenhang mit dem Schulbesuch von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Die Kinder sollen durch besondere Massnahmen (Spezialunterricht, Förderung, Schulung in besonderen Klassen) grundsätzlich in Schulen mit Regelklassen unterrichtet werden. 2008 ist eine von der Erziehungsdirektion erarbeitete Verordnung zu den besonderen Massnahmen in Kraft getreten, woraufhin die Schulen beauftragt wurden, die besonderen Massnahmen umzusetzen. Kann ein Kind dennoch nicht in die Regelklasse integriert werden, so regelt Artikel 18 des VSG die Sonderschulung.


IF, ISR ODER SONDERSCHULE?

Nicht jedes Kind mit erhöhtem Bildungsbedarf fällt in die Kategorie der integrativen Sonderschulung. Braucht ein Kind aufgrund von Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten Unterstützung, so kann es diese innerhalb der integrativen Förderung (IF) erhalten. Sonderschulbildung erhalten Kinder mit einer Behinderung. Laut dem Bericht Sonderpädagogik des Regierungsrates erhalten rund 2600 aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen im Kanton Bern Sonderschulbildung. Dies entspricht 2,4 %. Davon können rund 500 Kinder und Jugendliche innerhalb der integrativen Sonderschulung in der Regelklasse (ISR) unterrichtet werden. Die anderen 2100 Kinder und Jugendlichen besuchen eine Sonderschule.


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